Immer dem Faden nach

Immer dem Faden nach

Textilien erschaffen und immer weiter und wieder verwandeln ist eine uralte und unendliche Geschichte.
Zu den ältesten flächenbildenden textilen Techniken gehören das Handweben, das Stricken, Häkeln und das zumindest optisch verwandte Klöppeln – Techniken, denen sich noch heute (vor allem) Frauen ganz traditionell, aber auch kreativ-experimentell widmen.
Mit dem Klöppeln von Spitzenkragen und -borten verdienten bis in die jüngste Zeit Bergmannsfrauen ein Zubrot – heute ist es zumeist eine attraktive Freizeitbeschäftigung, die darüber hinaus jedoch durchaus auch künstlerischen Ansprüchen gerecht werden kann, wenn eine tiefergehende inhaltliche Auseinandersetzung mit einem bildnerischen Thema zu einem ausdrucksstarken Ergebnis führt.
Quod erat demonstrandum!
Zwei beeindruckende Präsentationen der von Textilkünstlerin Gerlinde Rusch geleiteten Erfurter Klöppelgruppe und der Gruppe TEXTILR(A)USCH im Eichsfeldmuseum Heiligenstadt und in der Erfurter Michaeliskirche unter den Titeln LEINEN LOS! und RINDENHART & SAMTWEICH stellen es nachdrücklich unter Beweis.

VERNISSAGE 20.09.2018

 

Ausstellung LEINEN LOS!

Erfurter Klöppelgruppe und Gruppe TEXTILR(A)USCH

Eichsfelder Heimatmuseum Heiligenstadt

 

Warum hier eine so benannte Ausstellung stattfindet, macht neugierig, zumal wohlweislich diverse und auch divergierende Spuren gelegt wurden:
Fragt sich zuerst, ob eine davon eventuell zur christlichen Seefahrt weist, obwohl Wikinger hierzulande vermutlich äußerst selten gesichtet wurden:
Der Seemannsruf „Leinen los!“ bedeutete allerdings früher wie auch noch heute: Aufbruch zu neuen Ufern, hinter sich manchmal abgebrochene Brücken, vor sich unbekannte Ziele, zu erreichen auf unsicheren Wegen, mit ungewissem Ausgang, Kentern und Untergang als Risiko inclusive, Herzklopfen kostenlos. Und dann ging es los, mit allen Kräften, Sinnen und Erfahrungen – hinein in ein Abenteuer, dem Wirken unbekannter Elemente ausgesetzt – manche berechenbar, manche aber auch nicht – mal mit Hilfe von allen Seiten, mal auf sich gestellt und allen voran – von Flußufer zu Flußufer oder einmal um die ganze Welt!

Auch jeder Kreative kennt das: ein leeres Blatt Papier vor einem ebenso leeren Kopf, einen trockenen Pinsel eintauchen, einen Faden durch ein Öhr ziehen – und dabei dieses leichte Vibrieren im Hirn wie in den Fingerspitzen! Aber auch rein sprachlich ist die Verknüpfung verführerisch und traditionsbeladen: Jedoch (Pech gehabt!) bestand und besteht seemännisches Tauwerk mitnichten aus Leinen, sondern seit langem aus Sisal und Hanf, neuerdings auch aus Draht und Kunstfasern.

Als weiteres Mysterium zeigen sich spezifische geo-logische Verbindungen:
Diese Region durchstreift ein Fluß namens Leine – hört, hört! – mit einem Leinetal drumherum, und des weiteren findet sich als Örtlichkeit – Achtung! – Leinefelde! Aber auch hier lässt sich leider keine direkte Verbindung erkennen zu dem tatsächlich hier (wie eben auch anderswo) bis ins 19. Jahrhundert nachweislichen Handwerk der Leine(n)weberei samt Rohstoff lieferndem Flachsanbau, von Wollweberei begleitet, abgelöst jedoch dann von der offenbar lukrativeren Baumwollverarbeitung.

Allerdings weckt das deutsche Volksliedgut darüber hinaus erhebliche Zweifel an der Seriosität dieses Berufsstandes:

Die Leineweber haben eine saubere Zunft,
harum di scharum di schrumm, schrumm, schrumm.
Mittfasten halten sie Zusammenkunft,
harum di scharum di schrumm, schrumm, schrumm.
Aschegraue, dunkelblaue, schrum, schrumm, schrumm.
mir ein Viertel, dir ein Viertel, schrumm, schrumm, schrumm.
mit der Jule, mit der Spule, mit der schrumm, schrumm, schrumm.

Naja … Und dann geht es da noch um gestohlene Schweine, Wanzen und Flöhe in den Weberschiffchen und hardrockartige Musik … Was soll man dazu sagen!
Frauen, worauf habt Ihr Euch denn da eingelassen???
Abgesehen davon erscheint auch die Herstellung allein schon des unschuldig glatten Leinenfadens aus dem so freundlich hellblau heranblühenden Flachspflänzchen geradezu brutal, wie auch sein weiteres Schicksal! Einschlägige Tatsachenberichte des dänischen Dichters Hans Christian Andersen belegen das (ich zitiere auszugsweise):

„Die Leute sagen, daß ich ausgezeichnet gut stehe“, sagte der Flachs, „und daß ich schön lang werde, es wird ein prächtiges Stück Leinwand aus mir werden! Wie glücklich bin ich doch!“ Aber eines Tages kamen Leute, die den Flachs beim Schopfe faßten und mit der Wurzel herausrissen, das tat weh; er wurde in Wasser gelegt, als ob er ersäuft werden sollte, und dann kam er über Feuer, als ob er gebraten werden sollte, das war greulich!
„Es kann einem nicht immer gut gehen!“ sagte der Flachs. „Man muß etwas durchmachen, dann weiß man etwas!“
Aber es wurde sehr schlimm. Der Flachs wurde gerissen und gebrochen, gedörrt und gehechelt, ja, das wußte er, wie das alles hieß; er kam auf den Rocken: schnurre surr!
Da war es nicht möglich, die Gedanken beisammenzubehalten.
‚Ich bin sehr, sehr glücklich gewesen!‘ dachte er bei all seiner Pein.
„Man muß froh sein über das Gute, was man genossen hat. Froh, froh, oh!“ und das sagte er noch, als er auf den Webstuhl kam, und so wurde er zu einem herrlichen, großen Stück Leinwand. Aller Flachs, jeder einzelne Stengel kam in das eine Stück.
Nun kam die Leinwand ins Haus, dann kam sie unter die Schere. Wie man schnitt, wie man mit der Nähnadel hineinstach! Das war wahrlich kein Vergnügen. Aber aus der Leinwand wurden zwölf Stück Wäsche von der Art, die man nicht gern nennt, die aber alle Menschen haben müssen; es waren zwölf Stück davon.
Jahre verstrichen – dann konnten sie nicht länger halten.
„Einmal muß es ja doch vorbei sein!“ sagte jedes Stück. „Ich hätte gern noch länger halten mögen, aber man darf nichts Unmögliches verlangen!“
Dann wurden sie in Stücke und Fetzen zerrissen, so daß sie glaubten, nun sei es ganz vorbei, denn sie wurden zerhackt und zerquetscht und zerkocht, ja sie wußten selbst nicht, wie ihnen geschah – und dann wurden sie schönes, feines, weißes Papier!
Es wurden die allerschönsten Geschichten darauf geschrieben, und die Leute hörten, was darauf stand, und es war richtig und gut, es machte die Menschen weit klüger und besser, als sie bisher waren, es war ein wahrer Segen, der dem Papier in den Worten gegeben war.
Eines Tages aber wurde alles Papier auf den Feuerherd gelegt, denn es sollte verbrannt und nicht an Höker verkauft werden, die Butter und Zucker darin einwickeln …
„Uh!“ sagte es, und gleichzeitig war da alles eine Flamme, die ging höher, als der Flachs je seine kleine, blaue Blume hatte erheben können, und glänzte, wie die weiße Leinwand nie hatte glänzen können.
Alle die geschriebenen Buchstaben wurden augenblicklich ganz rot, und alle Worte und Gedanken gingen in Flammen auf. Das war eine Freude mit anzusehen, die Kinder des Hauses standen und sangen: „Schnipp-Schnapp-Schnurre, Baselurre, aus ist das Lied!“ Doch die kleinen, unsichtbaren Wesen, die in den Flammen tanzten, sagten alle: „Das Lied ist nie aus, das ist das schönste von allem! Ich weiß es, und deswegen bin ich der allerglücklichste!“
Aber das konnten die Kinder weder hören noch verstehen, und das sollten sie auch nicht, denn Kinder brauchen nicht alles zu wissen.

Tja – soweit der Andersen-Report! Allerdings hat dieser ominöse Ausländer eine Menge Märchen verfasst – vielleicht ist also das auch nur eine Erfindung?
Wollen wir dann nicht lieber endlich nach all den Irrungen und Wirrungen rings um die oder das LEINEN mal in die Gegenwart und statt in Bücher an die Wände schauen? Da scheinen doch rund zwei Dutzend Thüringerinnen (aber auch andernorts finden sich solche!) wieder so etwas wie die gute alte Spinnstube ins Leben gerufen zu haben, in der schon seit Jahrhunderten alles durchgehechelt wurde und dabei so manche Spinnerei und Verstrickungen aller Art herauskamen!
So haben sie es auf zahlreiche Ausstellungen und Preise deutschlandweit gebracht und inspirierende Studienreisen durch Europa miteinander unternommen.
Aber wie man sieht und fühlt, spielt auch das traditionsreiche Leinen immer noch oder wieder eine wichtige (Garn-)Rolle, jedoch anders als noch zu Andersens Zeiten bleibt es dabei nicht allein. Heute findet man (bzw. frau): Die Mischung macht’s!
Beim textilen Arbeiten gilt inzwischen, anders als beim Bier, kein Reinheitsgebot, sondern der Spaß am und der Mut zum Experiment mit dem Widerspruch – typisch für die aufmüpfige Frau von heute, die eben ihre Dialektik von der Pike auf gelernt hat: Das Miteinander im Gegeneinander als Kampf und Einheit der Gegensätze macht das Leben wie die die Kunst erst richtig spannend!

Deshalb ist beispielsweise das Abarbeiten eines Klöppelbriefes, also eines vorgezeichneten Musters, für lebens- und textilerfahrene Frauen wie die der Gruppe TEXTILR(A)USCH (ein Name, über den noch etwas zu sagen sein wird) wie ein friedliches Dümpeln im Hafenbecken. Freies Klöppeln dagegen ist das Abenteuer der ebenso freien stürmischen See, jeder Schlag (also die verknüpfende Umdrehung mindestens zweier Fäden durch Klöppel in einer Hand) gleicht einer Suche nach dem neuen, noch unbekannten Weg ins Ungewisse und das Ganze einem spannenden Krimi mit jederzeit offenem Ausgang.
Jede Reihe beginnt mit der Frage: Wie bringe ich alle Klöppel vollzählig ans rettende Ufer des Reihenendes – und wie dann wieder, auf möglicherweise ganz anderem Wege, auch wieder zurück – nicht durch bequemes Wiederholen des schon Gekonnten, sondern durch mutiges Erproben von Neuem. Da gibt es kein Ausruhen mehr – im vertrauten Leinenschlag beispielsweise, der eine Gewebestruktur nachbildet ähnlich dem Stopfen einer Socke (falls das überhaupt noch jemand kennt) – sondern immer neue Fragen und Entscheidungen stehen an:
Wie wechsele ich in eine andere Struktur, wie schaffe ich Kontraste zwischen Dicht und Locker, Fein und Grob, Glatt und Rau, Glänzend und Matt, aber auch Farb- und Helligkeitsunterschiede durch das Einarbeiten verschiedener Garne aus unterschiedlichen Materialien wie Seide, Wolle, Papier, Folie, Naturobjekte oder sogar Metall in zahlreichen überraschenden Variationen, und wie führe ich zu guter Letzt alles zu einer spannungsvollen Harmonie mit fühlbarem Ausdruck und einer nachvollziehbaren, der Technik entsprechenden Aussage? All das im Kopf, die Klöppel, später eventuell auch Näh-, Strick- und Häkelnadeln in der Hand, heißt es dann: Leinen los, Kurs halten, aber auch immer wieder prüfen, ändern, variieren. Und sogar, ob man den Zielhafen erreicht hat, weiß man selbst nicht immer so genau! Kein Wunder, dass frei arbeitende Klöpplerinnen wie alle anderen Kreativen oft nicht vom Arbeitsplatz zu kriegen sind, bis sie Anker werfen, den letzten Klöppel oder die Nadel, den Stift, den Pinsel aus der Hand legen und in unserem Fall irgendwann endlich die kursmarkierenden Nadeln ziehen können! Jede Störung vor dem Ziel bedeutet Ideenverlust, einen Absturz des Programms, das meist nur als Kopfkino, manchmal sogar nur ganz vage als ein Gefühl existiert. Und nötige Pausen diktiert der Prozess selbst: sie dienen zugleich der Prüfung des begangenen Weges, notfalls auch dem Neuausrichten des Kurses und dem Allerschwersten, dem Beschluss des Endes. Und vielleicht beginnt dann sogar noch einmal eine neue Reise als Montage mit anderen Elementen und Materialien, als plastisch-räumliche Überformung oder als Überarbeitung mit Feuchtigkeit, Hitze, Färbungen, Überlagerungen, um manches zu variieren und eventuell sogar in ein anderes, größeres Ganzes einzufügen!
Spätestens hier wird klar: Es geht längst nicht mehr um schmückende Kragen und dekorative Borten – es geht um eine bildnerische Aussage mit textilen Mitteln und also manchmal tatsächlich um KUNST (was auch immer dieses Wort bedeutet).
Und mir ging es mit meinen Überlegungen vor allem darum, nicht das Entstandene zu bewerten – ohnehin rein objektiv ein kompliziertes Unterfangen, denn das steht jedem Betrachter selbst zu und ist ein ganz individueller Prozess, um einem Werk im Kontext der eigenen Erfahrungen nahezukommen – sondern darum, unser aller Aufmerksamkeit für die Vorgänge zu schärfen, die das hier zu Entdeckende hervorgebracht haben – für das große Abenteuer der Kreativität, dem wir immer wieder staunend und respektvoll gegenüber stehen, und darum, unser Empfinden zu sensibilisieren für den Reichtum der vielfältigen Eindrücke und Assoziationen, den Phantasie und (nicht zu vergessen) Geschick, Fleiß und langjährig erarbeitetes handwerkliches Können aus schlichten Fäden hervor zu zaubern verstehen.

Und: Es gilt Achtung zu wecken für den Mut aller, die von den Pfaden durchaus geachteter Traditionen abweichen, wie das auch Textilfrauen seit Jahrtausenden tun, um neue Ufer zu erobern, und in diesem Sinne in ihrem Geist zu rufen: LEINEN LOS!!! Und dabei nicht den Käpt’n zu vergessen, der wacht, damit das Schiff Kurs hält und nicht sinkt – beim TEXTILR(A)USCH (Achtung: Anagramm!) heißt er Gerlinde RUSCH und hat nun schon fast vier Jahrzehnte viele Klippen umschifft und manchem Sturm getrotzt! Der Käpt’n gibt auch den Befehl, nicht nur die Leinen zu lösen, sondern vor allem, die Segel zu hissen, ohne die es zumindest in alten motorlosen Zeiten keinen Meter voran ging – und die zumindest bis vor rund hundert Jahren tatsächlich meist aus LEINEN bestanden!
Also: LEINEN LOS! Und: LEINEN IN DEN WIND! AHOI! Und: Volle Kraft voraus!!!

 

Dr. Jutta Lindemann
Erfurt, 19. September 2018

VERNISSAGE 30.11.2018

 

Ausstellung RINDENHART & SAMTWEICH

Erfurter Klöppelgruppe und Gruppe TEXTILR(A)USCH

Michaeliskirche Erfurt

 

Eine wichtige Warnung möchte ich vorausschicken: Ich erkläre keine Bilder. Das kann ich nicht, und vermutlich kann das niemand.
Aber ich möchte Wege zu entdecken helfen, auf denen jeder ganz für sich selbst Erlebnisse und Erkenntnisse aus den Kunstwerken gewinnen kann. Außerdem ist dann hinterher jeder selbst schuld! Immer wenn mich eine Aufgabe wie diese vor das erste leere Blatt auf meinem Desktop treibt, fällt mir ein Ratschlag meines klugen Deutschlehrers vor nunmehr über 50 Jahren ein, der mir half, ziemlich erfolgreiche Aufsätze damals noch auf analoges Papier zu bringen: Analysiere zuerst das Thema Wort für Wort! Aber leicht gesagt, schwer getan – das Thema, das rund 20 langjährig kreativ erfahrene Textilartistinnen Klöppel, Nadeln, Scheren und noch mancherlei Werkzeuge aus diversen Branchen monatelang schwingen ließ, scheint simpel, hat es aber in sich – zusätzlich mit erhöhtem Schwierigkeitsgrad durch Einarbeitung eines vorgegebenen Ruschschen Draht-Klöppelelements – denn es geht tiefer, als es auf den ersten Blick scheint: Nicht nur die kontrastreiche Sprache von Linien, Formen und Farben oder die differenzierte Optik und Haptik diverser Materialien ruft es auf den Plan, sondern auf deren Spuren führt der Weg über unsere ebenso spannungs- wie modulationsreiche Empfindungswelt in die diffusen Untiefen dessen, was man unser Seelenleben nennt. Na, da freut sich Freud!

Und wie in der klassischen Therapie beginnen wir vielleicht zum Aufwärmen mit ein paar assoziativen Wortspielen, die geistige flugs mit körperlichen Empfindungen in Beziehung setzen: Samtweich, pflaumenweich, butterweich, weich wie Gummi – rindenhart, stahlhart, knochenhart, hart wie Diamant … ect. pp.

Hand aufs Herz: Wer hat noch nie mit schmerzhaftem Ergebnis in der Erwartung eines weichen auf ein harten vorjährigen Keks gebissen oder umgekehrt statt eines herzhaften einen schlaffen Händedruck erhalten – was uns ebenfalls auf direktem Weg ins Wesensinnere eines Menschen führt und damit auf das weite Feld von Emotionen und Charakterzügen – und den diskutablen Spruch: „Nur die Harten komm’n in Garten!“ Aber Kunst, und ganz besonders die mit textilen Möglichkeiten, hat ja gerade diesen Weg von außen nach innen (und zurück!!!) im Blickfeld, weil ihr als Vehikel, also Transportmittel im wahrsten Sinne des Wortes, die Sinnlichkeit verfügbar ist – und zwar tatsächlich mit allen ihren Varianten.

Zuerst springt uns zumeist das Optische in Gestalt von Formen und Farben an: Gerade Linien, scharf gewinkelte Konturen, glatte Kanten, kubisch-tektonisch Gebautes treten an gegen gerundete, geschweifte, ausfasernde, verfließende oder auch bullig geballte und rundlich verwirbelte Formen, aber auch kalte, schrille Töne wie Blau, Türkis, Weiß und metallisch schimmernde Oberflächen gegen warme, sanft leuchtende wie Gelb, Rot, Braun und stumpf-raues Finish, denn wir assoziieren zunächst aus unserer Lebenserfahrung Weiches mit Warmem, Gerundetem und Hartes mit Kühlem, Kantigem. Auf den ersten Blick stellt sich also Organides, Gewachsenes gegen Technoides, Konstruiertes – aber so einfach ist es zum Glück denn doch weder im Leben noch in der Kunst!
Das beweist ganz besonders auch diese Ausstellung.

Wie alle Farben und Formen immer wieder vielfältige Vorstöße in die jeweils andere Welt wagen und erst dadurch die Sache richtig spannend machen, sozusagen in unauflöslicher Hassliebe den Konflikt am Kochen halten, so kann die gestaltende Hand ganz besonders lustvoll mit den Gegensätzen spielen und diverse Gedanken und Gefühle über die Potenzen von tatsächlich oder auch nur scheinbar Widersprüchlichem aktivieren – meist zum Gewinn für beide Seiten, die sich gegenseitig durch den Kontrast mit Besonderheit und damit Bedeutung aufladen. Schließlich wissen wir als gelernte Dialektiker um Einheit und Kampf der Gegensätze und deren wechselseitig inspirierender Wirkung – Faust und Mephisto gewissermaßen, die noch dazu immer mal die Rollen (und Kostüme) tauschen! Aber das Spiel geht ja weiter, wir haben schließlich noch mehr Sinne als den der Augen! Vielleicht fallen Hören, Riechen und Schmecken etwas weniger ins Gewicht, wenn es auch Spaß machen kann, z. B. kostbare Gewebe rascheln oder knistern zu hören oder in vergilbten alten Büchern den Geist der Jahrhunderte auch mal zu erschnüffeln. Doch unumgänglich in der Kunst – und ganz besonders in einer stark werkstoffbezogenen wie der Textilkunst – ist der taktile oder haptische Sinn, wenngleich in Ausstellungen dieser Erfahrung aus verschiedenen Gründen Schranken gesetzt sind.

Weich und hart, rau und glatt, fließend und gebrochen sind besser noch als mit den Augen mit den Fingern zu erspüren und finden so den direktesten Weg zu unseren Emotionen, die auch in unserem Leben außerhalb der Kunst (ja, das gibt’s!) von jeder Berührung hervorgerufen werden – ob gewollt oder nicht. Und hinzu kommt beim Arbeiten mit so betont körperhaften Materialien wie Textil, Holz, Stein oder Metall der kraft- und lebensvolle Ausdruck der Plastizität, der aus „Flachware“, wie kunstmarktorientiertes Kulturmanagement Malerei und Grafik neuerdings gern benennt, Skulpturen macht, die in den Raum hinein auf uns zu drängen und damit buchstäblich aus dem Rahmen zu fallen (lieber nicht!) oder zu springen scheinen. (Leider müssen allerdings auch hier wieder die Augen die Aufgabe der Finger und Hände übernehmen, wobei die Erfahrung mit diversen Werkstoffen wichtige Hilfsdienste leistet.)

Betonte Materialität eröffnet zudem weitere Wege des Gestaltens. So inspirieren bereits die Eigenschaften jedes Werkstoffs Bildideen.

Der Film in unseren Köpfen und Sinnen richtet sich dabei schon – herausgefordert vom Thema – auf herkunftsbedingte Eigenschaften der Materialien noch vor ihrer Verarbeitung: Rinde wächst als zarte, lederartig weiche und verformbare Haut über das Holz und erhärtet und verkrustet (wie mancher Mensch) erst im Laufe ihres Lebens. Samt wird aus glatten, festen, wenn auch schon beweglichen Fäden gewebt, seine streichelweiche Oberfläche erhält er aber erst durch das Aufschneiden dicht an dicht sitzender winziger Schlingen. In beidem sind also beide Eigenschaften vorhanden – das Harte wie das Weiche – und werden erst durch Modulationen zur endgültigen Beschaffenheit geformt.

Ganz und gar zu einem filmreifen Kriminalfall (im vorliegenden Fall vielleicht mit dem Titel „Tatort Textil“) wird das Ganze allerdings endgültig, wenn wir angesichts der Resultate alle Vorgänge des Entstehungsprozesses eines Textilbildes zu rekapitulieren vermögen. Denn auch hier stehen wir immer wieder an Wegscheiden, die in zunächst unterschiedliche Richtungen zu führen scheinen – allerdings mit der Option, diese Pfade immer wieder zusammen zu führen. Vier auch sinnlich ganz unterschiedlich erlebbare Methoden des kreativen Umgangs mit körperhaften, raumgreifenden Werkstoffen wie Textil finden sich auf allen Arbeiten, oft auch in Kombination. Der erste Weg ist das Montieren, das eher zweidimensional betonte Zusammenfügen von Grundelementen wie z. B. beim Weben und Klöppeln. Der zweite führt deutlicher in den Raum: das Überlagern und Schichten wie bei Applikationen. Ebenso ist es mit dem dritten, dem reliefplastischen Verformen z. B. zu Falten oder Wülsten etc.. Und der vierte, gewissermaßen mephistophelische Weg, macht das scheinbar „Böse“ zur Tugend: das Zerstören und Auflösen von vorher Geschaffenem wie etwa ganz klassisch bei Lochstickerei oder Ätzspitze. Das aber ruft häufig die anderen Methoden ergänzend auf den Plan, um aus allem zusammen etwas ganz besonderes Neues entstehen zu lassen und bei tieferem Betrachten, aber natürlich auch schon bei der Arbeit unsere Sinne durcheinander zu rütteln. Prallen nämlich bei tiefer Konzentration auf Prozess und Ergebnis all diese sinnlichen Wirkungen aufeinander, zusätzlich fokussiert durch eine spezifische Themenstellung, wird die Begegnung einerseits besonders lustvoll, kann aber ebenso bei starken empathischen Fähigkeiten sogar Assoziationen mit menschlichen Wesenszügen und individuellen Lebenssituationen hervorrufen. Denn all das findet sich hier wieder – in Widersprüchlichkeit und Harmonie, im Miteinander natürlicher Fund- und mühevoll erarbeiteter Werkstücke, im Nebeneinander von bewusst streng konzipiert Gebautem und wie zufällig spielerisch Gewachsenen, zart, zierlich, behutsam suchend, aber ebenso wuchtig, gewaltig und mit selbstbewusster Präsenz. Und ein bisschen blitzt auch die digitale Welt hinein mit ihren neuen Möglichkeiten zwischen Irritation und Innovation am Beispiel virtuell, aber eben auch mit der Hand erschaffener Gewebe-Fakes.

Da wir in weihnachtlicher Erwartung sind, ist aber auch noch etwas im wahrsten Wortsinn besonders Wunderbares zu berichten: Nur beim kreativen Arbeiten gibt es die seltene Gelegenheit, Fehler zu Erfolgen umzumünzen (na gut, das gibt’s auch in der Politik!) oder noch besser mit viel Glück sogar aus kleinen Katastrophen gewaltige Ideenvulkane hervorzuzaubern. Das ist nämlich alles vor allem eine Frage der Interpretation und der Inspiration zur Variation und bedeutet letztlich, dass man eigentlich gar keine Fehler machen kann, was wiederum zu kühnen Experimenten und unerwarteten Eskapaden ermutigt und jeden Kreativen überhaupt und insgesamt etwas wagemutiger und selbstbewusster macht. Wer könnte das nicht gebrauchen? (Und zum Glück für den, dem dies widerfahren ist, kann das später außer dem Täter selbst auch keiner mehr erkennen – alle Spuren beseitigt und obendrein noch Stroh zu Gold gesponnen!!!)

Tja – nun ist das alles statt zum Lobgesang auf die fleißigen und vor allem phantasievollen Protagonistinnen der Erfurter Klöppelgruppe und der Gruppe „TEXTILR(A)USCH“ unter Leitung von Kapitänin Gerlinde Rusch eher zu einer Einführung in den ersten „Tatort Textil“ der Weltfilmgeschichte mutiert. Also an dieser Stelle: LOB & DANK!!! Aber da hier neben Täterinnen auch (hoffentlich sehr neugierige) Spurensucher sitzen, bleibt es vielleicht auch dann noch spannend, wenn Sie sich jetzt alle, immer an der Wand lang, mit der Lupe des Sherlock Holmes und der Sinnenlust von Faust und Mephisto auf die Suche begeben und am Ende sogar im besten Falle ein Stück Welt und darin auch ein Stück von sich selbst entdecken.

 

Dr. Jutta Lindemann
Erfurt, November 2018

Für alle Neugierigen, die diese anregenden Arbeiten noch im Original betrachten wollen: Die Ausstellung im Eichsfeldmuseum Heiligenstadt endet am 25. Januar 2019, die in der der Erfurter Michaeliskirche am 15. Januar; Öffnungszeiten finden Sie über die angegebenen Links.

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→ Flyer Ausstellung LEINEN LOS!
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Fotos: Jutta Lindemann, Edelgard Wiegand, Christel Dargel