Katrin Lucas & Piär Amrein

Besiegeltes Schicksal oder: Dichtung und Wahrheit im Leben und in der Kunst

Siegelschmuck & Daktyliotheken VBK 01.08.2005

Dichtung und Wahrheit – das stammt zwar von Goethe, aber wir stehen ja gewissermaßen in seinem Vorzimmer und dürfen ihn ungehemmt adaptieren, kolportieren und malträtieren – wenn’s denn Sinn macht.

Und es macht, meine ich.

Ich frage jetzt nämlich Sie: Ist die folgende Geschichte Dichtung oder Wahrheit?

 

Im Vorlauf eines kommenden Geschehens geriet in den späten Jahren des vergangenen Jahrtausends eine junge Dame von der rauen Nordküste in eine alte Seestadt südlich der Alpen und begegnete dort einem unlängst verehelichten Paare, das ihr von Stolz erfüllt ein besonders kostbares Hochzeitsgeschenk präsentierte: ein anspruchsvoll handgefertigtes und versiegeltes Kochbuch. Auf geheimnisvolle Weise angezogen von diesem Kunstwerk schloss sie kurz darauf Bekanntschaft mit dem Schöpfer desselben, der ihr auf mannigfaltige Art in ihrem eigenen Ansinnen beizustehen und ihren Wünschen willfährig zu sein vermochte – und so nahm denn das Schicksal seinen Lauf und Gott Amor zween neue Pfeile aus dem Köcher, die er zielsicher zu platzieren verstand. Sssst-plopp und Sssst-plopp!

Die Sache war in Sack und Tüten, beschlossen und besiegelt.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

 

Reingefallen? Nee, nich? Richtig! Alles hat sich genauso zugetragen – im Kontext des Erfurter Schmucksymposiums 1994! Katrin Lucas aus Hamburg hatte sich mit dem Thema Siegel (denn im Thüringischen hatte sie eine alte Siegellackfabrik entdeckt) als erste Erfurter Stadtgoldschmiedin beworben, machte vorher zufällig (?) noch mal einen kurzen Ausflug nach Zürich zu Freunden – und wusch – es war passiert! Und da stehen sie nun beide 11 Jahre nach dem 6. Schmucksymposium und im 11. Jahr ihrer Partnerschaft, die auf magische Weise mit der Stadt Erfurt verknüpft ist: Katrin Lucas und Piär Amrein – und wir begrüßen sie als wiederholte Wiederholungstäter, denn Erfurt lässt sie – wie so manchen – seither nicht aus den Klauen; immer einmal wieder lassen sie sich für und bei Aktionen in unseren Mauern als gern gesehen Gäste blicken.

Na gut, dieser Test hat nicht geklappt – ich bitte um eine Chance für einen weiteren Versuch:

Wie steht es wiederum mit Dichtung und Wahrheit bei den folgenden drei Shortstories in ? Raten Sie …!

 

The first Story, in Versform gegossen:

 

Ballade von der verlorenen Zeit

(oder: Proust macht vor Schiller Hand-schuh-stand)

Im tiefsten Süden in Sevilla,

geputzt mit Fächer und Mantilla,

in Samt und Seide schwarz und bunt

umsaßen der Arena Rund

die allerschönsten Damen

mit Herrn von Rang und Namen

und warteten voll Gier

aufs Blut vom Stier.

 

Die Stiere waren längst schon da,

viel Fußvolk auch aus Fern und Nah,

nur einer ließ sich nicht erweichen –

er wartete aufs Glockenzeichen.

Nicht dass er diesen Kampf floh,

er war ja doch Torero!

Doch alles in ihm rief:

Vergiss nicht den Tarif!

 

Denn nicht zu früh und nicht zu spät

Ein Kämpfer an die Arbeit geht.

Auch er hat seine Arbeitszeit,

und vorher-nachher tuts ihm leid.

Die Stiere müssen warten.

Das Publikum spielt Karten,

Und der Torero weint:

So hab ich’s nicht gemeint!

 

Noch heute brütet die Arena,

warum’s nicht losgeht, det weeß keena!

Die Stiere kämpfen mit sich selber

und krieg’n vor Langeweile Kälber.

Der Kämpfer und das Publikum,

die bringen sich verzweifelt um.

Den Stieren tut’s nicht weh,

sie brüll’n dazu: Olé!

 

Und niemals haben sie erfahren,

warum sie denn gestorben waren.

Doch wir, wir können alles sehn

In einer Schachtel bunt und schön,

da liegt allein die Lösung nur –

die zeigerlose Stadionuhr.

Nur noch die Stiere kämpfen munter.

Drunter.

 

Dieses war der erste Streich, doch der zweite folgt sogleich:

 

Traktat von den drei Pinseln

Drei Pinsel wandern durch die Welt.

Sie sind auf sich allein gestellt.

Von oben schaut ne Wolke zu:

Bald hat die liebe Seele Ruh!

 

Drei Pinsel wandern durch die Nacht.

Da hat der eine sich gedacht:

Macht doch alleine Eure (Sch)reis(s)e!

Und schleicht von dannen still und leise.

 

Zwei Pinsel wandern durch den Wald.

Da denkt sich auch der zweite bald:

Was soll ich hier an diesem Ort?

Und stiehlt sich schnell klammheimlich fort.

 

Ein Pinsel weint nun bitterlich:

Warum nur ließ man mich im Stich?

Was soll ich denn jetzt ganz allein?

Dann stellt auch er das Wandern ein.

 

Und nur die Wolke bleibt noch stehn,

um auf die Welt herab zu sehn.

Jedoch ist die nun ohne Pinsel.

Und schon erhebt sie ein Gewinsel:

 

Ach, lieber Gott, wenn es dich gibt,

ich hab die drei doch so geliebt!

Sie zieht gewaltig einen Flunsch,

Und Gott erhört auch ihren Wunsch.

 

Seither sieht man sie alle vier

in einer Kiste auf Papier.

Und die Moral von der Geschicht:

Verachtet mir die Pinsel nicht!

 

Sind sie auch einzeln schwach und nichtig,

vereinigt sind sie stark und wichtig!

Erst wenn sie fehlen, fehlen sie!

Das ist ein Stück Philosophie

Von einem großen Pinsel

Auf unsrer Himmelsinsel.

 

Und last but not least: Story Number Three:

 

Moritat von den Strapsen

Zwei Sockenhalter, jung und schön,

die wollten abends tanzen gehen.

Doch fand sich keine Wade.

Schade.

 

Da sprach der eine zu dem andern:

Wir sollten weiter aufwärts wandern.

Denn weiter oben klappt’s.

Als Straps.

 

Gesagt, getan, sie taten dies

Und fanden’s auch zuerst ganz süß

so ohne Halt und Henkel

am Schenkel.

 

Doch andere, die riefen: Oh!

Und schrien Zetermordio!

Und: Wie ich das wohl finde!

Sünde!

 

Es kam denn auch sofort herbei

Die strenge Sittenpolizei:

Drei Stempel voller Stolz.

Gut Holz!

 

Doch angesichts der schönen Damen

Vergaßen sie, warum sie kamen,

entflammten sofort lichterloh.

So.

 

Und weil die Zahl sich ungrad fand,

der erste Swingerclub entstand.

Und alles blieb im Rahmen.

Amen.

 

Und so weiter und so fort – der Phantasie des Publikums setzen die witzig-hintergründig verschachtelten Ding-Geschichten von Piär Amrein nicht nur keine Grenzen – sie fordern sie geradezu heraus, um selbst neue Stories zu erfinden vom Woher und Wohin der kleinen Protagonisten zwischen Etiketten und Echsenschwänzen, Pinseln und Petschaften, Porzellanpüppchen und Papiertapeten, Spitzenschachteln und Strapsreliquien – manches davon auch in Erfurt gesammelt, die alle fein säuberlich und nicht ohne Tiefsinn in gefundenen oder selbst gefügten winzigen Bühnenräumen aus Zigarrenschachteln, Bucheinbänden oder Bilderrahmen aufeinander los oder nebeneinander her agieren, in manchmal gewaltigen Zeitsprüngen hin und her galoppieren, ironisch gefasst und für immer festgehalten im Gefängnis ihrer Geschichte von Versiegelungen, die dem kleinen Weltgeschehen da drinnen durch heraldische Zeichen zum einen scheinbar historische Dimensionen verleihen, aber mit satirischem Unterton zum anderen auch blaublütige Provenienz.

 

Piär Amrein als gelernter Buchbinder weiß das Schöne und zugleich Skurrile solcher Fundstücke zu schätzen, die vollgesogen sind mit dem Leben von Generationen, durch deren Hände sie gingen. Mal sparsam, mal üppig, doch immer durchdacht geordnet füllt er die kleinen Reliquienschreine so, dass auch immer noch Platz bleibt für die eigenen Chimären des Betrachters, die alsbald aus seinem Kopf treten, dazuschlüpfen und assoziativ dem Erzählten eine neue, eigene Wendung geben.

 

Und Dichtung und Wahrheit fließen nahtlos ineinander, Gesprochenes und Unausgesprochenes, Unaussprechliches verschmelzen miteinander zu etwas Ahn- und Fühl-, aber noch nicht Denk-, geschweige denn Fassbarem. Alles ist wirklich, und alles ist unwirklich.

 

„Die Wirklichkeit ist das, womit man unter gar keinen Umständen zufrieden sein … darf … Und sie ist … auf keine andere Weise zu ändern, als indem … wir zeigen, dass wir stärker sind als sie.“

 

Nicht nur die Arbeit mit Siegeln – zusammengetragen in der sogenannten Daktyliothek, die die Methode des Abprägens reliefplastischer Strukturen im Spektrum zwischen kriminaltechnischem Fingerabdruck und künstlerisch motivierter Frottage kultiviert, traditionell aber eine Sammlung von Gemmenringen oder Wachsabdrücken und Druckgrafiken zur Nachbildung echter Gemmen meint – verbindet das Werk von Piär Amrein mit den Arbeiten seiner Frau, der Schmuckgestalterin Katrin Lucas, sondern auch dieser Gedanke von Hermann Hesse, der das Spiel mit den Dingen in Zeit und Raum herausfordert, um die Wirklichkeit kreativ zu überwinden –ein Spiel, das aus dem Bewahren des Vergehenden und Vergangenen kreativ Neues schöpft.

 

Und auch sie gräbt im Vergangenen, doch weniger konkret-dinglich als geistig-mythisch.

 

Und doch wird’s sinnlich-saftig, denn die antiken Götter sind pralle sinnenfrohe Gestalten mit einem heftigen und wechselvollen Liebesleben, und auch auf dem anderen Feld, auf dem sie sich tummelt, den klassischen deutschen Kindermärchen, geht’s bei genauer Betrachtung immer ziemlich kräftig zur Sache.

 

Diesen in unserem Alltag durchaus noch lebendigen Tatsachen kann man mit Siegelringen Nachdruck verleihen, denn zum Kauf gibt’s eine Stange Siegellack in der Farbe eigener Wahl gratis dazu, um nachhaltig Eindruck zu hinterlassen – eine schöne Tradition, die natürlich voraussetzt, dass man auch noch richtige Briefe aus Papier schreibt. Und nicht nur die Ringe, Manschettenknöpfe und Kettenanhänger sind dafür geeignet – Katrin Lucas, deren Prinzip es ist, Verschluss-Systeme als eigenen gestalterischen Wert zu begreifen, fügt Armbänder so aus Einzelelementen zusammen, dass jedes davon jederzeit herausgelöst und zum Prägen verwendet werden kann.

 

Im deutschen Märchenwald, in dem neben schlanken, ranken Tannen auch so manche krumme Krüppelkiefer wächst und neben unschuldig vor sich hin duftenden Veilchen auch der mit leckerem Rot lockende Fliegenpilz lauert, treffen ausgesetzte und gefangen gehaltene Kinder, aufgeschnittene oder an die Wand geklatschte Tiere und zeitweilig aufgefressene bzw. im Backofen gebratene alte Frauen aufeinander – jaja, es geht ganz schön heftig her bei Hänsel und Gretel, Rotkäppchen und Froschkönig! Und heiter flitzen dazwischen muntere Skihasen hin und her – schließlich hat der Osterhase im Winter Ferien und kann ganz locker als Tourist den Märchenwald unsicher machen! Und auch die Götter sehen wir in gegensätzlichen Lebenssituationen – lasziv ruhend wie Venus oder kriegerisch bewegt wie Achill!

 

Und wie im wahren Leben Himmel und Hölle, Tag und Traum, Jubel und Verdammnis nicht ohne einander existieren können, gibt’s auch bei Katrin Lucas das Gute und das Böse im Doppelpack – respektive die Positiv- und die Negativform auf Wunsch zusammen in Doppelsiegelringen oder bei dem vom Bettelarmband abgeleiteten Bettelring mit zwei Anhängern.

 

Viele der verwendeten Märchen-Siegel-Werkzeuge sind ursprünglich für Kinderschmuck verwendete Fundstücke aus der Zeit der Erfurter Stadtgoldschmiedschaft, einige der Urformen inzwischen leider verschollen.

 

Die Göttermotive dagegen lassen sich auf Abdrücke kostbarer antiker Gemmen zurückführen.

 

Und die meisten Stücke dieser Ausstellung wurden bereits im vergangenen Jahr für ein 10-jähriges Jubiläum ebendieser Zeit und in Erinnerung an eine prägende Lebensphase produziert – aber die 11 als Jubiläumszahl ist ja auch nicht ohne – eine „Schnapszahl“ wie diese markiert schon einen weiteren Schritt – den Schritt voran ins Neue.

 

Dichtung und Wahrheit sind auch bei diesem Märchen- und Mythenschmuck mit antiken Wurzeln so dicht beieinander, wie’s nur geht: Was Tierfreundin Leda wirklich im Schilde führt, merkt ja nun auch der Letzte, Zeus’ Verwandlungskünsten dagegen ist wohl kaum eine Frau auf den Leim gegangen (eine Fliege – igittigitt!), wohingegen der Entsetzensfaktor der Medusenfrisur von jedem Punkerinnenhaupt locker in den Schatten gestellt wird – Mythen entblättert, im Dutzend billiger!

 

Und doch bleiben sie schön – und forever young: Diana und Rotkäppchen, Venus und Gretel, Zeus und Froschkönig – Helden ihrer wie unserer Zeit – Hand in Hand zum Armbandreigen aufgereiht oder zum

 

Mythenball um Mitternacht

Froschkönig hebt das rechte Bein, da setzt auch schon Musike ein,

da hat, wer hätte das gedacht, die Gretel Zeus sich angelacht,

der Schwan lässt Leda einfach stehn, sich mit dem Wolf im Tanz zu drehn,

dem tropft der Zahn schon nach dem Schwan,

dann schleicht er sich an Nike ran,

da haut Achill ihm auf die Nase, mit seinen Skiern droht der Hase.

Von Pan und Eros eingekreist, der Wolf fast in die Hosen sch…

Wogegen Göttinnen und Musen schon heftig mit dem Platon schmusen.

Die sollten es doch besser wissen: Platonisch lieben ist besch…

Tritonen stoßen in ihr Horn: Seid still, da redet einer vorn!

Medusa sträuben sich die Schlangen, die Hexe will den Hänsel fangen,

Froschkönig haut den Sokrates, die Band tut noch ein übriges,

das Durcheinander zu verstärken, und schließlich kann sich keiner merken,

was vorne laut der Göttervater erzählt von Kunst und von Theater.

Sie vollen Spaß und keine Reden; Kultur – das langweilt schließlich jeden.

Da haut Achilles auf die Pauke – der war schon immer ein Rabauke –

Doch Beifall klatscht der ganze Saal und ruft: Ach bitte noch einmal!

Da haut er noch mal, und der Schwan zieht sich die Baßgitarre ran,

Und wer greift sich das Saxophon? Na klar, natürlich ein Triton.

Platon spielt toll Piano – wow, und schon verfällt ihm jede Frau!

Hänsel und Gretel tanzen Step – vor allem Gretel hat viel Pep!

Rotkäppchen wirft sein Käppchen ab und bringt den Sokrates auf Trab!

Und alle rufen plötzlich: Heda! Was ist denn mit der kleinen Leda?

Denn rechts den Zeus und links den Pan tritt sie zur Polonaise an.

Und Märchen, Mythen, groß und klein, die tanzen über Stock und Stein,

durch Griechenland und Märchenwald, dass die Geschichte widerhallt.

Und wer’s gehört oder gelesen, der ist fast wie dabei gewesen!

Doch auch wer diesen Schmuck geseh’n, weiß: Diese Zeiten waren schön!

Nur sind sie leider längst vergangen und in Geschichten eingefangen,

und auch in Schmuck von Künstlerhand sind Mythenwesen festgebannt!

Doch kann zum Leben sie erwecken, die in den Stücken drinnen stecken,

wer fest sie drückt in Siegellack – denn dann erwacht das ganze Pack!

Und wieder geht der Tanz dann los! Drum kauft ihn alle, klein und groß!

Das tät die Katrin Lucas freuen – sie macht auch sofort wieder neuen!

Damit die Kundschaft nicht entwetzt, versiegelt sei mein Mund ab – jetzt!

 
Erfurt, 1. August 2005 | Dr. Jutta Lindemann