Angewandte Kunst im Aufbruch –

eine Deutschlandreise

Laudatio zur Vernissage im Kulturhof Krönbacken am 18.12.2010

Angewandte Kunst im Aufbruch – dieser Titel steht für einen veritablen Anspruch. Wer den Aufbruch wagt, gibt einen Ruhezustand auf, um sich mit großen Ambitionen in Bewegung zu setzen, auf der Suche nach neuen Wegen, weil die alten ausgetreten sind. Es ist zu hinterfragen, ob das auf diese Ausstellung zutrifft und auf alles, was dahinter steht – zuerst aber danach, was das eigentlich ist: Angewandte Kunst. Mir gefällt diese Bezeichnung nicht sonderlich, da der Begriff “angewandt” unklar ist und den Kunstbegriff insgesamt fehlinterpretiert, einengt, nivelliert.

 

Wie wendet man Kunst denn eigentlich an? Doch nur, indem man sie als das nutzt, was sie ist: Kunst. Denn wohl kaum kann ernsthaft gemeint sein, dass all die hier vorgestellten Arbeiten unbedingt einem im engen Sinn materiell-praktischen Gebrauch zugeführt werden müssen, auch wenn es bei einigen möglich wäre oder sogar beabsichtigt ist . . .

 

Besser gefällt mir “Kunsthandwerk”, obwohl ja wohl jede Kunst auch handwerkliches Können voraussetzt (auch dieses scheinbar ewig gültige Kriterium wird allerdings im zeitgenössischen Kunstverständnis längst konzeptionell konterkariert). Doch im Wort “Kunsthandwerk” wird das Augenmerk einerseits auf die Herkunft der Gattung und andererseits auf den spezifischen Prozess der Entstehung eines Produkts gerichtet, das sich dieser Kategorie zuordnen lässt.

 

Kunsthandwerk ist aus der handwerklichen Herstellung von Gebrauchsgegenständen entstanden und hat sich historisch mittels eines neu gewonnenen Kunstanspruchs bewusst gegen die aufkommende industrielle Produktion abgegrenzt – mit Selbstverständlichkeit inzwischen bis zur logisch daraus hervorgegangenen Zurücknahme der rein materiellen Gebrauchsfunktion zugunsten einer rein ideellen als Kunstobjekt, ohne jedoch jemals die traditionell aus der Zunftbindung gewachsene ganz besondere Beziehung zu den spezifischen ästhetischen Werten des Werkstoffs und das ebenso ästhetisch motivierte Sichtbarmachen des Werkprozesses aufzugeben.

 

Gerade aber auch dieser nahezu schizophrene Spagat zwischen individuellem Unikat-Kunstwerk und industriell-seriellem Designprodukt, zwischen inhaltlich motivierter bildnerischer Formulierung und funktionaler Zweckform fordert ständig zur Auseinandersetzung heraus und macht zugleich das besondere Potenzial von Kunsthandwerk aus.

 

Denn wenn man bewusst unter der Begriffs-Flagge Kunsthandwerk segelt, wird jedes Gefäß, Gerät, Möbel- oder Kleidungsstück (und Schmuck ja sowieso) immer auch als Bild oder Skulptur betrachtet, unabhängig davon, ob es möglich oder nötig ist, etwas damit zu verrichten, darin aufzubewahren oder ähnlich vordergründig Nützliches damit zu tun, da es zuallererst und dann konsequenterweise oft sogar ausschließlich ästhetisch funktioniert – was natürlich dann immer auch fordert, sich den Maßstäben moderner Bildkunst zu stellen.

 

Warum also nicht gleich direkt und eindeutig Bilder und Skulpturen aus dem von ihnen bevorzugten Werkstoff produzieren, womit im übrigen viele Kunsthandwerker seit langem legitim ihr Profil erweitert haben?

 

Unter diesem Aspekt könnte ein Aufbruch bedeuten, aus den noch immer gern aufgesuchten profitablen Nischen kunstgewerblicher Gefälligkeit hervor und selbstbewusst der Konkurrenz auf dem Kunstmarkt entgegen zu treten – mit dem Anspruch jeder Kunst, nicht nur zu erfreuen, sondern auch zu beunruhigen – Fragen nicht nur zu beantworten, sondern vor allem, sie zu stellen.

 

Zeitgenössisches Kunsthandwerk, das sich ernst nimmt, sollte für den Künstler wie für den Rezipienten eben nicht nur Gefühl und Genuss meinen, sondern auch Nachdenken und Zweifel – was heißen soll, sich mit einer künstlerisch formulierten Position in die Welt zu stellen, auch auf die Gefahr hin, nicht nur Zuspruch, sondern auch Widerspruch zu erfahren und im besten Falle daran zu wachsen.

 

Ich denke, gerade das aber bedeutet Aufbruch: Gewohntes (und damit durch auch gern Gekauftes) in Frage zu stellen, um Ungewohntes zu riskieren – und das ist so selbstverständlich in diesem Metier nicht, in dem doch noch häufig die Harmonie der Perfektion, die Brillanz der Vollendung, der Schein der schönen Oberfläche im wahrsten Sinne des Wortes zum Maß aller Dinge erklärt wird – vor allem, wenn ausschließlich der Kunde König ist. Dabei läßt vor allem die witzig-experimentelle kreative Überschreitung von traditionellen Gewerksgrenzen nahe am Borderlinesyndrom auf Innovationen hoffen.

 

Es kann also kein Zufall sein, dass sich diese Wanderausstellung, die vom BK Deutschland ausgeschrieben wurde und in den Jahren 2008, 2009 und 2010 durch einige Bundesländer wanderte, ihre letzte Station in Erfurt hat, den Titel “Angewandte Kunst im Aufbruch – eine Deutschlandreise” gegeben hat.

 

Eine Vielzahl von Gestaltern/innen aus allen Bereichen der angewandten Kunst hatte sich auf die Ausschreibung des BK Deutschland beworben. Von einer renommierten Jury sind die Arbeiten von 72 Designern/innen und Künstlern/innen aus den Sparten Schmuck und Gerät, Glas, Keramik, Holz, Metall, Papier, Textil und Accessoires ausgewählt worden, die nun auch in Erfurt wirkungsvoll präsentiert werden.

 

Ergänzend wird jeweils ein Beitrag des gastgebenden Bundeslandes präsentiert, in Thüringen ausgewählt aus Bewerbungen von Mitgliedern des Bundes Thüringer Kunsthandwerker e. V., der als einzige Organisation von Kunsthandwerkern der neuen Bundesländer derzeit im Bundesverband Kunsthandwerk vertreten ist.

 

Dank zu sagen ist daher für ihre Unterstützung der Ausstellungsstation Erfurt ist dem Freistaat Thüringen, Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, der Sparkassenstiftung Erfurt und der Thüringer Landeshauptstadt Erfurt, Stadtverwaltung.

 

25 der insgesamt 64 Mitglieder des Bundes Thüringer Kunsthandwerker stellen Arbeiten vor, die fast das gesamte Spektrum der Gewerke und Aufgabenfelder incl. interessanter Fusionen umgreifen – von der klassischen oder experimentellen Gefäßkeramik und textilen Flächengestaltung über Holzobjekte zwischen Skulptur und Design bis hin zum innovativen Instrumentenbau, aber auch mit regionalspezifischen Schwerpunkten beispielsweise bei Schmuck und Metall – schließlich gibt es neben Holz- und Keramiksymposien und der TextilArt Thüringen seit 1984 in der Landeshauptstadt Erfurt ein inzwischen international renommiertes Schmucksymposium, seit 1990 ebenfalls europaweit besetzte Treffen für Industrieemail und gab es seit 1994 einen Stadtgoldschmied, der leider inzwischen dem Rotstift zum Opfer fiel – alles angesiedelt in den dafür besonders ausgestatteten städtischen Künstlerwerkstätten.

 

Der “Bund Thüringer Kunsthandwerker e. V.”, 1990 hervorgegangen aus der 1950 gegründeten “Einkaufs- und Liefergenossenschaft des Kunsthandwerks des Bezirkes Erfurt”, einer Zweckgemeinschaft dem Namen nach, die in Wirklichkeit jedoch auch immer ein Forum der Auseinandersetzung um Qualität und eine Möglichkeit anspruchsvoller Gemeinschaftsprojekte war, manifestiert dabei einerseits das oben beschriebene Spannungsfeld zwischen Kunst, Handwerk und Design, denn hier versammelten sich zunächst vorrangig die Meister im Handwerk, die zwar keine Hochschulstudium abgeschlossen, wohl aber gestalterische Ambitionen über das kleinserielle Alltagsgeschäft hinaus hatten, trafen allerdings bald auch auf Kunsthochschulabsolventen etwa der Hochschule für industrielle Formgestaltung Burg Giebichenstein Halle, die in gleichen Gewerken tätig waren, aber künstlerische Ansprüche an ihre Arbeit allem voranstellten und daher oft zugleich im Verband Bildender Künstler der DDR organisiert waren, der mit Selbstverständlichkeit eine Sektion Kunsthandwerk führte (wie übrigens auch eine für Designer resp. Formgestalter und sogar eine für Kunstwissenschaftler), so dass dort auf Augenhöhe (wenn auch nicht reibungsfrei) gearbeitet und diskutiert werden konnte. Diese Begegnungen kulminierten in den DDR-Kunstausstellungen in Dresden, wo im eigenen Ausstellungsgebäude am Fucikplatz mit großer Resonanz Kunsthandwerk neben Design, architekturbezogener Kunst, Fotografie, Gebrauchsgrafik und Karikatur demonstrierte, dass es durchaus möglich war – u. a. unter dem Deckmantel des scheinbar unverbindlich Dekorativen modernste Bildsprachen zu entwickeln, jenseits vom Dogma des sozialistischen Realismus.

 

Die Doppelmitgliedschaften existieren hier noch heute als fruchtbare Herausforderung (nun im Verband Bildender Thüringen, jedoch ohne separierte Sektionen, und im Bund Thüringer Kunsthandwerker) – ebenso allerdings wie die zuweilen sogar produktiven Debatten um den Kunstbegriff und die Rolle des Kunsthandwerks dabei.

 

Andererseits gibt auf diese Weise heute noch im BTK für den technisch gestandenen Handwerker ohne spezielle bildnerische Ausbildung die Option, durch Maßnehmen an den Leistungen anderer Mitglieder in gemeinsamen Ausstellungsvorhaben, aber noch besser durch besondere Weiterbildungsangebote seiner soliden technischen eine adäquate künstlerische Qualifikation hinzuzufügen.

 

Die Gesamtheit der Exponate demonstriert große gestalterische Vielfalt und hohe Kreativität. Fern aller Beliebigkeit wird Gestaltung im Kunsthandwerk wie auf allen Feldern der Kunst als ein geistiger Prozess ausgewiesen, der dem Betrachter Raum für eigene Assoziationen gibt und die Chance eröffnet, neue Wege des Sehens und Erlebens zu erfahren – im Kunsthandwerk ganz besonders um die sinnlich-ästhetische Erfahrung von Werkstoff und Werkprozess und deren spezifischen Verknüpfung miteinander bereichert. Das bezieht sich ausdrücklich auch auf Exponate, die über den ästhetischen hinaus insbesondere zum utilitären Gebrauch bestimmt sind, sich jedoch durch ihr erkennbar künstlerische Konzeption aus der Fülle seriell-handwerklich geschaffener Alltagsgegenstände hervorheben und durch ihre somit unverwechselbare ästhetische Dimension bestechen.

 

Die Ausstellung führt in der spannungsreichen Verknüpfung von Tradition und Innovation den kontroversen Diskurs über die aktuelle Rolle des Kunsthandwerks in der Kunstentwicklung der Gegenwart mit gleichermaßen sinnlich wie geistig erfahrbaren Argumenten fort und fordert Besucher und Betrachter neben der Freude am Kunsterlebnis zur Meinungsbildung heraus. Anstoß dazu kann durchaus noch immer der berühmte und umstrittene, weil ambivalente und daher auch weiterhin streitbare Satz von Walter Gropius aus dem Bauhausmanifest von 1918 sein, einer Einrichtung gewidmet, die immerhin hier ganz in der Nähe gegründet wurde: “Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers.”

 

Erfurt, im Dezember 2010 | Dr. Jutta Lindemann