Dian Zwetkow – Seelenspuren

Laudatio Begegnungsstätte Kleine Synagoge am 29.03.2004

Es gehört vielleicht zu den intimsten Vorgängen zwischen zwei Menschen, wenn der eine den anderen porträtiert, denn das bedeutet eine Begegnung von Seele zu Seele. Ein gutes Porträt dringt durch Äußerlichkeiten der Erscheinung hindurch bis zum Wesenskern des Porträtierten, legt die Höhen und Tiefen seiner inneren Landschaften bloß, jedoch ohne ihn bloßzustellen, sondern in Hochachtung vor der unverwechselbaren Inidividualität des anderen.

 

Dian Zwetkow, gebürtiger Bulgare, doch seit 15 Jahren in Deutschland und seit fünf davon in Erfurt ansässig und leidenschaftlicher Fotograf von Kindesbeinen an, ist von der Einmaligkeit jeder menschlichen Persönlichkeit fasziniert. Über die Arbeit am Porträt mit Menschen Kontakt aufnehmen zu können, begeistert ihn mehr als es jede Landschaft oder Architektur jemals könnte.

 

Menschen jeden Alters, Frauen und Männern, aus 35 Ländern in Nord-, Süd-, Ost- und Mitteleuropa, Süd- und Mittelamerika, im Nahen Osten und in Afrika blickte er ins Gesicht, und sie begegneten ihm auf so unterschiedliche Weise, wie ihre regional bestimmte Mentalität und ihr individuell geprägter Charakter es zuließen: Offen oder verhalten, stolz oder skeptisch, selbstbewusst oder schüchtern, fröhlich oder nachdenklich treten sie auch uns, den Betrachtern in einer anderen Welt, gegenüber.

 

Und doch hat diese Konfrontation noch weitere Dimensionen über das momentane Aufeinandertreffen, den spontanen Dialog dieser Begegnung hinaus. Zwetkow setzt der Farbaufnahme einerseits das mystisch-expressive Spiegelbild des Negativs entgegen und ergänzt sie andererseits durch eine sepiagetönte Schwarzweissvariante. Damit überschreitet er den momentanen Zeitrahmen der Aufnahme und entwickelt Visionen in Vergangenheit und Zukunft, indem er die Metamorphosen des menschlichen Schicksals über Farbveränderungen widerspiegelt und damit Deutungsambivalenzen provoziert: Ist die Schwarzweißvariante das unbeschriebene Blatt des hoffnungsvollen Anfangs oder die harmonische Ausgeglichenheit der Altersweisheit, das Verblassen der Vergängnis? Ist die expressive Umkehr der natürlichen, vertrauten Farbstrukturen im Negativ der Hinweis auf die Doppelbödigkeit, die Janusköpfigkeit der äußeren Erscheinung, auf Abgründe, Hintergründe unter der Schicht des Wahrgenommenen, auf die zwei Seiten alles Wirklichen, die Existenz einer anderen als der sinnlich zu erfassenden Welt, auf die Kraft des Spirituellen – oder doch einfach nur ein Spiel mit den Ausdrucksmöglichkeiten von Farbe, einfach Lust an der Kraft ungewöhnlicher Kontraste?

 

Die Reihung suggeriert Zeitlichkeit – die Endlichkeit des Einzelwesens im Kontext der Unendlichkeit der Schöpfung als Ganzheit, doch auch die Unersetzbarkeit des Beitrags jeder einzelnen Wesenheit für dieses Ganze, deren jede unverwechselbare und unauslöschbare Spuren, Seelen-Spuren, in der Welt hinterläßt, unabhängig davon, welche äußerliche Rolle sie in dieser spielen durfte. Ob stolzer Stammeshäuptling oder vom Leben gezeichneter Obdachloser, entsagungsvoller Mönch oder lustvoller Ladyman, in sich ruhender junger Afrikaner im fantasievollen Schmuck aus Zivilisationsmüll oder prachtvoll farbig gekleidete alte Bäuerin aus Lateinamerika mit scheu niedergeschlagenen Blick – der Fotograf setzt achtungsvoll die regionaltypische Mentalität und Erscheinung des Porträtierten, die ihn beeinflussen und verändern, in Beziehung zur Individualität seines Charakters, so wie es dem Fotografen in der kurzen Frist der Begegnung gelingen kann, ihn zu erfassen.

 

Und sie begegnen einander in Augenhöhe, der Reisende begibt sich ebenso in ihre Hände wie sie sich seinem Blick aussetzen. Das ist ein Geben und Nehmen von beiden Seiten, im vollen Vertrauen aufeinander: Die Bilder lassen uns genau das spüren.

 

Und so war es eine ebensolche Begegnung, die den Anstoß gab für diese seine erste Ausstellung: Einen jungen Mönch aus einem Kloster in Laos, der ihm über viele Gespräche besonders nahe kam, möchte er über den Verkauf von Fotos bei der Finanzierung eines Studiums unterstützen.

 

Ebenso wichtig aber ist wohl die zutiefst menschliche Botschaft, die von diesen Bildern ausgeht, weit entfernt vom Voyeurismus des europäischen Wohlstandstouristen mit der Lust auf Exotik ohne die Gefahr ernsthafter Berührung.

 

Worte von Ingeborg Bachmann scheinen mir dieser Bildbotschaft eines gedankenvollen, aufmerksamen Weltenwanderers am nächsten zu kommen:

 

Wir wanderten im Wunder und wir streiften

die alten Kleider ab und neue an.

Wir sogen Kraft aus jedem neuen Boden

und hielten nie mehr unsren Atem an.

 

Wo anders sinkt der Schlagbaum auf den Pässen;

hier wird ein Gruß getauscht, ein Brot geteilt.

Die Handvoll Himmel und ein Tuch voll Erde

bringt jeder mit, damit die Grenze heilt.

 

Wir aber wollen über Grenzen sprechen,

und gehn auch Grenzen noch durch jedes Wort:

wir werden sie vor Heimweh überschreiten

und dann im Einklang stehn mit jedem Ort.

 

(Aus: Anrufung des Großen Bären: Von einem Land, einem Fluss und den Seen. 1956)

 

Erfurt, 29.03.04 | Dr. Jutta Lindemann