Uta Hüninger – Natürlich!

Laudatio Uta Hünniger – Arbeiten auf Papier und Keramik – 17.04.2004 in der Galerie Waidspeicher im Kulturhof zum Güldenen Krönbacken

Wäre ich von Beruf Kreuzworträtseldesigner – und wer weiss schon, ob die Entwicklung im öffentlichen Dienst mich nicht irgendwann aus diesem oder jenem Grunde zwingt, diesem Berufsbild näher zu treten – dann würden sich mir vermutlich die beiden doch recht rätselgeeigneten Begriffe Stigma und Dogma häufiger in den Weg werfen, als sie es bisher taten. Hier und heute jedoch tun sie es unausweichlich, und das liegt sowohl in der Natur ihres eigenen Wesens als auch dieser Ausstellung, die sich zwischen beiden Begriffen kühn hindurchkämpft wie weiland Odysseus mit seinen tapferen Mannen zwischen Scylla und Charybdis.

 

Denn mit Stigmata mancherlei Art, wie sie gerade besonders beliebt sind – und zwar außerhalb der traditionellen religionsgeschichtlichen Deutung, jedoch nicht ganz entfernt davon und in ihrer Wirkung auch mindestens so schmerzlich, wenn nicht dar vernichtend – ließe sich auf den ersten Blick und ohne entsprechende Gegenwehr Leben und Werk der Uta Hünniger behaften – als da beispielsweise wären: Frauenkunst und Ostkünstlerin.

Und die Dogmen – ein außerhalb der Filmkunst ebenfalls eindeutig negativ besetzter Begriff – die ihr um die Ohren gehauen werden könnten, wären möglicherweise:

Malerei und Grafik sind zwei eindeutig definierte und voneinander abgegrenzte Bereiche!

Oder:

Gegenständlichkeit und Abstraktion schließen als Bildprinzip einander aus!

Oder:

Den Thüringer Wald zu malen führt zwangsläufig in die wieder weit geöffneten Arme von Herbert Roth – Gott habe ihn selig.

Oder:

Pink ist keine Malerfarbe!

 

Aber Uta Hünniger zeigt sogar Odysseus, was eine Harke ist:

Sie dreht den Spieß einfach um!

Die Stigmata macht sie doch glatt zur Ehrenbezeugung mindesten zwischen Olympiamedaille und Oscar, und die Dogmen zum kategorischen Imperativ frei nach Kant und mit Bumerangeffekt.

(Zur Erinnerung für alle, denen es momentan gerade entfallen war: „Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte“.

Ganz schön vermessen von dem Frauenzimmer, isn’t it?)

 

Ist das nun schon die Alterweisheit ihrer knappen 50 Jahre und der mühsam errungenen Souveränität einer Retrospektive? Wieder weit gefehlt – das Gegenteil ist der Fall – es steht eher zu befürchten, dass sie ganz absichtlich bisher noch immer kein bisschen weise geworden ist!

Und gerade das wollen wir doch mal sehen! (Oder gut bajuwarisch: Schaumermal!

Zuallererst: Da wird gemalt, was das Zeug hält, und zwar, weil Uta Hünniger süchtig danach ist – einfach nicht mehr anders leben kann.

Daher zeichnen alle Blätter – und die hier vorgestellte Auswahl aus Hunderten von Arbeiten der letzten dreißig Jahre aus eigenem Besitz umfasst nur einen Teil des thematischen Spektrums – immer und zuvörderst Spuren des Auf und Ab ihres eigenen alltäglich gelebten Lebens nach.

 

Dabei begegnen einander Gedanken und Gefühle oft sogar konfrontativ, manchmal aber auch ausgleichend oder sogar integrativ – für den Betrachter nachvollziehbar durch die sehr persönliche Zuordnung des Malerischen zur Emotionalität, des Zeichnerisch-Grafischen jedoch weitestgehend zur Rationalität, es sei denn, Linien fließen aus der sinnlichen Erfahrung der Körperbewegung heraus, vor allem auf großen Formaten, die dazu dienen, über den Lauf des Pinsels innere Bewegungen herausfließen zu lassen durch den Raum hindurch auf die Fläche, so etwa bei den Lebenskreisen, die dem Radius des Armes folgen und ihm beispielsweise gesteuerte, gewusste Strukturen kunstvoller Arabesken als Symbol harmonisierender Musikalität entgegenstellen. Das wird dann zum Tanz der Seele in Raum und Zeit, dessen explosiver Verlauf wie von einem Seismographen auf den riesigen Bögen niedergeschrieben wird.

 

Überhaupt Räume! Sich in Räumen zu bewegen, ob geistigen oder realen, spirituellen oder materiellen, ermöglicht der Künstlerin das Wandern zwischen den Welten, denn es öffnet ihr die Türen zwischen Malerei und Musik, Tanz und Text – auch das soll der heutige Abend uns auf besondere Weise erfahren lassen, indem das Bilderlebnis sich mit der Lyrik von Marco Hupel, die auch einige der Bilder inspirierte, und der musikalisch begleiteten experimetellen Tanzperformance von Dela Diezel zu einem Gesamtwerk verbindet. Und spätestens dabei wird deutlich: Das ganz spezifische Raum-Zeit-Kontinuum der Uta Hünniger speist sich aus den Wurzeln und Wegen ihres Lebens.

 

Für Thüringer scheint es fast schon symptomatisch, dass sie irgendwann einmal wieder an den Tatort ihrer Geburt zurückkehren – da muss es irgend so einen mysteriösen Fluch geben!

 

Und selbst der Befreiungsschlag einer mehrjährigen Berlinflucht zu Studium und exzessiv-engagiertem Freiberuflerleben, zeitweilig sogar unter einer neuen Identität als Viola Blum auf der Flucht vor den Zwängen des ersten Ruhms und mit einem befristeten Westversuch, kann diesen alten Zauber offenbar nicht brechen – die Seele bleibt eben doch lebenslänglich im Banne der Tanne!

 

Und während der sagenhafte wilde Prenzelberg und manche andere Berliner Romanze die virtuellen Räume der ratio eröffneten, setzte Thüringen als bewusst aufs neue und vor allem emotional besetzte Fluchtburg die ganz realen Räume seiner natürlichen Landschaften und Gesichter dagegen – wie die der heranwachsenden, mit allen üblichen Widersprüchen pubertierenden und sich schrittweise emanzipierenden Töchter, die endlich als mittelalterliche Madonnen gesehen den Jugendkult unserer Zeit symbolisieren – und den achtungsvollen Abschied in die Selbständigkeit. Sie legt die Gloriole wie ein Chakra um den Kopf der gereiften Tochter, als Zeichen geistiger Würde und Ausstrahlung, aber auch als Schutzhelm und Tarnkappe, wenn nötig – und schlägt einen magischen Bogen von der himmlisch verklärten, anscheinend unberührbaren Ikone der Madonna zum irdisch-verletzlichen Weib, führt letztlich beide in eins zusammen, denn daneben wachsen aus den schlammigen Farbmassen schwerer Thüringer Erde noch verhalten die fragenden noch jüngeren Gesichter der Töchter, durch sparsame blutrote Linien aus dem schweren Braun herausgeschält.

 

Die Selbstbildnisse dagegen fordern durch aggressive Kontraste und suggestive Konfrontation die Betrachter zur schonungslosen Selbstbefragung heraus: Welches Erbe gebe ich weiter, körperlich und seelisch, materiell und spirituell? Welche Schuld trage ich, welche Verdienste habe ich um die nächste Generation? Wie präge ich ihr künftiges Schicksal? Ist alles möglich? Ist alles nötig? Was wollen wir voneinander, was brauchen wir voneinander? Was wollen wir von uns selbst? Selbsterkenntnis ist der erste Schritt, um dieser Verantwortung gegenüber den Nachgeborenen gerecht zu werden. Kunst fordert dazu auf.

 

Nach so erfolgreicher Bewältigung nicht ganz unbewegter Zeiten im Leben und Schaffen stellt sich ganz natürlich das Bedürfnis nach einem Rückblick ein. Das für diese Rückschau auf beide Lebensfelder gewählte Rahmenthema wird in der Gegenüberstellung von Porträt und Landschaft bereits aufgemacht: Es spielt mit den Begrifflichkeiten Natur, natürlich und Naturell. Für die vor nunmehr auch schon 50 Jahren in Weimar geborene, doch in Erfurt bewusst aufgewachsene Künstlerin, ab 1996 wieder as herself daselbst, sind diese Begriffe nicht nur sprachlich verwandt, sondern verbinden ihr nahestehende Bereiche, die zugleich ihr künstlerischen Aufgabenfelder – zumindest für diese Exposition – abstecken, ohne sie einzugrenzen.

 

So umfasst die Auswahl der noch nie in Erfurt gezeigten farbigen Arbeiten auf Papier sowohl sehr konkrete Auseinandersetzungen mit dem Wesen das Wachsens und des Gewachsenen in der Gesamtheit der Natur und des darin eingebundenen Menschen, mit ihren geistigen, aber auch sehr materiellen Bewegungen in Zeit und Raum, ebenso jedoch die Ergebnisse des Dialogs mit dem ganz besonderen Naturell, das der natürlich gewachsenen Individualität und Identität jeder menschlichen Persönlichkeit und insbesondere ihrer eigenen entspricht. Und wie selbstverständlich entwickelt sich aus diesen Komponenten die malerische Handschrift, die dem natürlichen Strom der Gedanken und Gefühle über freien Farbfluss und Pinselzug Gestalt verleiht – entweder bewusst gesteuert von gedanklichen Konstrukten oder getragen von einer expressiv-sinnlichen Linearität aus der Körperbewegung heraus. Und die Linearität als ursprünglichste Handschrift des Inneren, als Psychogramm im wahrsten Sinn des Wortes, als direkter, spontaner Fingerabdruck der Seele zeichnet jede innere Regung nach.

 

Die Keramikobjekte dagegen, entstanden im Berliner Atelier Wilfriede Maass, akzentuieren fast sati(e)risch mit massiv in sich ruhender, doch zugleich dynamisch in ewiger Rotation erscheinender Kugelform, gekrönt durch mystisch anmutende bizarre Figurationen zwischen Herz, Fisch und Teufel, die die Harmonie der Kugel sprengen, den ewigen Lebenskreis in der Fülle seiner zur Vergänglichkeit verdammten Geschöpfe. Inwieweit diese Schaffenslinie etwa in Erfurter Keramikwerkstatt Isabell Franke fortgesetzt werden wird, sollte unsere Neugier wach halten.

 

Die grafisch-gestische Malerei der Uta Hünniger, mit ihrer betonten Linearität bis hin zu zeichenhaft geschriebener Ornamentik – gruppiert um die Spirale und den Armkreis als Lebenssymbol – mit ihren großen Formaten, über die sie im Kampf um Selbstbehauptung und gegen das erstarrt Akademische in einem Aufschrei des Körpers mit dem Pinsel tanzt, der Erlösung durch das Musikalische entgegen – bezieht geistige und formale Impulse unter anderem auch aus der expressiven Bildsprache eines Edvard Munch und bewegt sich inhaltlich auf diesem seit Jahrtausenden schmalen Grat jeder für das Leben engagierten Künstlerin zwischen nachdenklicher Analyse und nachdrücklicher Auflehnung. Sie widersteht den Dogmen der Ressortgrenzen in der mutigen, aber auch selbstbewussten und souverän beherrschten Balance zwischen Linie und Fleck, Zeichnerischem und Malerischem, Geformtem und Informellem, Realismus und Abstraktion.

 

Dabei ist die körperhafte Sinnlichkeit des Farbmaterials ebenso wie die dem Pinselfluss folgende Bildbewegung Träger des spirituellen Anliegens. Uta Hünnigers Pinsel seziert in Landschaften und in Gesichtern wie Landschaften Seelen, doch ohne zu verletzen, sondern um zu heilen, Leben zu behüten – oder besser – für die Eigenständigkeit zu stärken, ohne an Sensibilität zu verlieren.

 

Im Eingangsbereich wird der Grundgedanke ihres Arbeitens leitmotivisch demonstriert: Eine der jüngsten Arbeiten, inspiriert durch einen Text von Marco Hupel, steht explizit für einen bitteren Traum vom kalten Land, in dem sich, mitten im Schnee und fast begraben unter vom Himmel stürzendem Dunkel, eine Wiege behauptet. Und die Sehnsucht kommt in all dem Grau nach der Wärme des Rots, der Liebe. Da genügt es wohl nicht, auf den Messias zu warten – wir müssen sie hineintragen. Die Hoffnung, die Rettung kann nur aus uns selbst kommen. Die Künstlerin tritt energisch gegen diese große Kälte an – im Selbstbildnis daneben, selbdritt oder als Mutter-Töchter-Troika, was auf dasselbe hinausläuft, wendet sie sich dagegen.

 

Und für niemanden ist es zu übersehen: Das aufmüpfige Pink wird’s der Düsternis schon zeigen!

Und? Ist das nun typische Frauen- oder Ostkunst – oder was?

Doch ein Stigma? Etwas Mitleid mit der Quotenfrau gefällig oder doch erstaunte Akzeptanz spezifischer Qualität?

Für den orthodoxen Christen oder Juden verkörpern Frauen die Erbsünde, die Unreinheit, der chinesische Weise Lao-Tse dagegen fragt:

Kann sich öffnen und schließen das Himmelstor ohne das Weibliche?

Oder im klassischen Operetten-O-Ton:

Ganz ohne Weiber geht die Chose nicht!

Das weibliche Yin steht für dunkel, schwach, ruhig, kontemplativ, nachgiebig, kompliziert, intuitiv, unten, Nacht, das männliche Yang für hell, stark, schöpferisch, fest, bewegt, klar, rational, oben, Tag.

 

Beide Prinzipien enthalten jeweils den Kern des anderen in sich und ergänzen einander unabdingbar – wäre das nicht, wie es diese Kunst in ihrer ambivalenten, oszillierenden Verschmelzung scheinbar unversöhnlicher Prinzipien vorschlägt, ein Lösungsweg auch für unsere Zukunft? Ist etwa der Hermaphrodit, der Zwitter – in der übrigen Natur keine ungewöhnliche Erscheinung – ein Lösungsansatz, zumindest in psychisch-seelischer Hinsicht? Lao-Tse schlägt vor – und zwar Frauen und Männern:

 

Kenne das Männliche, aber bewahre das Weibliche.

Kenne das Licht, aber bewahre den Schatten.

Kenne das Hohe, aber bewahre das Niedrige.

 

Und: Gilt das nicht, fernab aller Ostalgieshows, auch für die mystische Ost-West-Beziehung in unserem gebeutelten und vor allem sich selbst beutelnden Land? „Kenne den Westen, aber bewahre den Osten? Kann sich öffnen und schließen das Westliche ohne das Östliche“ – oder so?

Oder das übliche Nachspiel der großen Politik: Der Vorhang fällt und alle Fragen offen? Vielleicht auch im Notfall ab in den Wald (und auf die Bäume)?

Jedenfalls sollte das für Ex-Thüringer Künstler gelten, die vielleicht Erfurt und den Krönbacken zwar nicht immer, aber immer öfter wieder zu ihrem Thingplatz machen sollten! Und vielleicht auch den 10 Regeln der Wolfsfrauen (einige kennen sie schon!) folgen, zu denen sich wohl auch Uta Hünniger zählen darf: (Und: „Am besten fängt man mit Regel Nummer 10 an“, empfiehlt Autorin Clarissa Estés, „wenn man gerade schwer zu kämpfen hat“):

 

 1. Essen

 2. Ruhen

 3. Spielerisch arbeiten und herumstreunen

 4. Loyal sein

 5. Kinder großziehen

 6. Im Mondlicht tanzen

 7. Ohren haarfein einstimmen

 8. Knochen ausgraben

 9. Lieben und sich lieben lassen

10. Oft und kräftig aufheulen.

 

Diese Ausstellung macht sinnfällig, warum ein keltisches Gesetz, das eigentlich ins Grundgesetz der Bundesrepublik aufgenommen werden müsste, lautet: Gib zwei Drittel deiner Kraft den Frauen, den Kindern und den Poeten!

 

Erfurt, 17.04.2004 | Dr. Jutta Lindemann