Schmuck 2006

Bienvenue – Laudatio zur Vernissage der Ausstellung des X. Internationalen Schmucksymposiums am 19.05.2006 im Vorderhaus Krönbacken

Falls wir gerade von Außerirdischen beobachtet werden sollten, würden die möglicherweise in ihren Forschungsbericht schreiben: „Die Thüringer sind ein abartiges Gebirgsvölkchen, die nach 200 Jahren eine verlorene Schlacht feiern, indem ihre Nachfahren die Nachfahren ihrer ehemaligen Feinde zum gemeinsamen Basteln einladen!“

 

Aber was wissen schon Außerirdische von den unerforschlichen Geheimnissen der Menschenseele! Würden sie sich auf ein Date mit uns Erdenwürmern einlassen, dann könnten wir beispielsweise antworten: „Geschichte ist vielleicht auch dazu da, dass man es beim nächsten Mal besser macht!“ Und wieder gut zumachen hat die Menschheit wohl einiges!

 

Und ohne Napoleons Feldzug gen Osten das Wort reden zu wollen – es gab wohl schon damals nicht nur Hass, Kampf und Tod, sondern auch Menschlichkeit, Begegnung und Nähe im aufklärerischen Geist von Humanité, Egalité et Fraternité – und vor allem sogar unter diesen militanten Konditionen den ersten Hauch eines modernen Europa, das 200 Jahre später aus freiem Wille zueinander findet. Wir alle heute hier sind ein Teil davon und tun einen zwar winzigen, aber sehr besonderen, persönlichen und daher auch nachhaltigen Schritt auf diesem Weg.

 

Und wäre es nicht eine Idee – zugegeben allerdings eine doch sehr utopische – alle Soldaten gegnerischer Heere vor dem Kampf ihre Waffen … emaillieren zu lassen? Da kämen sie sicherlich auf viel produktivere Gedanken … Schwerter zu Pflugscharen und Stahlhelme zu Kochtöpfen ist doch auch schon eine alte Geschichte – und „doch bleibet sie (leider) ewig neu“, um mit dem frankophilen deutschen Dichter Heinrich Heine zu sprechen, den wir in diesem Jahr – leider fast unbemerkt – ebenfalls ehren!

 

Also: Bienvenue France in der Stadt der historischen Begegnung von Goethe und Napoleon, in der Stadt, wo fast um die Ecke im danach benannten Kaisersaal 1808 Monsieur Bonaparte den russischen Zaren und die Rheinbund-Fürsten zum Kongress lud, nachdem er zwei Jahre zuvor bei Jena und Auerstedt die preußischen Truppen geschlagen hatte und bevor er fünf Jahre später nach der großen russischen Niederlage von den Preußen wieder nach Hause geschickt wurde, wobei ganz nebenbei die Festung Petersberg zusammengeschossen wurde, auf der sich die französische Besatzung verschanzt hatte! Davon wird in zahlreichen Geschichtsbüchern berichtet – weniger wohl von den Spuren französischen Denkens und Fühlens, von Amité und Amour, von gebrochenen Herzen, die zurückblieben – und sicher auch nicht von mancherlei sehr lebendigen Spuren in fleischlicher Gestalt.

 

Die Sehnsucht der schwerblütig-grüblerischen Deutschen nach französischem Charme, Esprit und Flair blieb ungebrochen bis heute – und zum Glück müssen wir all das ja auch nicht mehr entbehren.

 

Die Bataillen finden heute jedoch am Brennofen statt, das Schlachtfeld sind die Erfurter Künstlerwerkstätten, am Ende gibt es nur Gewinner, und die Siegestrophäen beider Parteien hängen hier an der Wand!

 

Le grand Empereur aber ist das Email: Fürst der Fantasie, Kaiser der Kreativität! Kampflos beugt man sich diesem ungekrönten Herrscher und siegt doch dabei selbst auf der ganzen Linie – ein bisschen soagr immer auch gegen sich selbst!

 

Erstaunliches bringt dieser Herrscher zuwege: Alte Haudegen der Leinwand zum Beispiel entdecken ganz neue, unschlagbare Waffen: Da kann man, außer den Pinsel zu schwingen, sprühen, streuen, kratzen, schablonieren, tropfen, aber auch laufen, reißen und platzen lassen, überlagern, verschmelzen, manchmal im Wortsinn auf Biegen und Brechen und mit allen Risiken, die das Brennen jeder einzelnen Farbebene auch für alte Hasen immer wieder mit sich bringt.

 

Aber auch abgeklärte, sieggewohnte Helden der Emailkunst lassen sich gern vom Geist eines solchen Zusammentreffens überwältigen und wachsen im Schlachtgetümmel über sich hinaus.

 

Von Alltagsroutine befreit, beflügelt durch Intuitionen aus der Konfrontation mit den inspirierenden Ideen der von Tag zu Tag weniger fremden neuen Freunde, brechen ungeahnte Ideen hervor, die eingefahrene Taktiken durch unkonventionelle Wege ersetzen, um neues Terrain zu erobern: die terra incognita der eigenen noch unentdeckten Möglichkeiten und Fähigkeiten.

 

Das bewirkt neben der Herausforderung durch andere Materialien und Techniken wohl auch die besondere Atmosphäre eines Symposiums, wo die unterschiedlichsten künstlerischen Strategien zuerst Attacke gegeneinander reiten, um jedoch im glücklichsten Fall, so auch bei diesem X. Jubiläumstreffen, schließlich einander produktiv zu potenzieren.

 

Et voilá – es hat sich gelohnt, wie man sieht: In all ihren Kontrasten unter der Regentschaft des Code Email miteinander versöhnt liegen sich in den Armen Figürliches und Abstraktes, Geometrisches und Informelles, Flächenhaftes und Plastisches, Malerisches und Grafisches. Wilde Farbräusche treffen neugierig auf sanfte Tonnebel, technoid Perfektes bekämpft lustvoll rauh Infinites, impressive Kontemplation touchiert expressive Eruption, gezielt konzipiertes Schablonieren geht eine Alliance ein mit spontanem Sgraffito, Industrieemail und Schmuckemail verschmelzen in glücklicher Marriage. Und auch die Bildauffassungen mehrerer Jahrhunderte prallen pars pro toto aufeinander, überlagern einander – vom sensibel hinterfragten Dürerporträt über die frei hingeschriebene klassische Zeichnung bis zum dramatisch inszenierten Paparazzopromifoto der schönen neuen Medienwelt, von der sachlichen Weltsicht der konkreten Kunst über skulptural geformtes Gefäß und Gerät bis zur mobilen satirischen Ready-made-Installation im Blickfeld von Dada, vom zum Ring gebogenen Nagel bis zum als Altar interpretierbaren Triptychon: Welten der Kunst treten zum Turnier an in der Arena dieses geschichtsbeladenen alten Gemäuers – und senken achtungsvoll die Waffen voreinander.

 

Wehte da Napoleons kämpferischer Weltsinn als Genius loci zum gotischen Portal herein? Krieg hin – Frieden her!

 

Bienvenue, experimenteller Mut und freizügige Vielfalt!

Die große Schlacht ist geschlagen, alle haben gewonnen – und den Trennungsschmerz bis zum nächsten Mal lindert nur die Überzeugung:

Nach dem Symposium ist vor dem Symposium –

weil immer wieder das Eckige in das Eckige muss –

will heißen, die Emailplatte in den Brennofen!

Denn: Die Wahrheit ist auf dem Platz – äh, im Ofen!

(Der diesjährige Juni wirft offenbar auch für Fußball-Abstinenzler wie mich seine Schatten voraus … Pardon, das ist wohl nur für Deutsche verständlich!)

 

Da bleibt mir nur noch das große Merci – Merci – Merci beaucoup an alle alten und neuen tapferen Ritter vom heiligen Email, wie immer Gäste der Erfurter Kulturdirektion:

 

Marie Thérèse Masias

Michel Coignoux

Grégory Gayot

Vincent Armand

Roger Bonnard

Simone Zeidler

Heike Stephan

Volker Atrops

Thomas Lindner

mit dem Kursleiter Rolf Lindner.

 

Und zu guter Letzt auf den Weg noch ein paar Zaubersprüche von geheimer magischer Wirkung für weiteres glückliches Gelingen – vielleicht etwa so:

 

Email hin, Email her – rundherum, das ist nicht schwer! Oder:

Email, Email – von dannen eil – verbrennst Dir sonst das Hinterteil! Oder:

Emaille, E-mail – schietegal – vorm Ofen hast Du keine Wahl! Oder:

Wenn das Email im Ofen klingt, die Seele in den Himmel springt!

Oder doch vielleicht lieber etwas aus der französischen Geschichte:

Allons enfants …! Oder: He – ca irá, ca irá, ca irá!

Ach nein – einfach nur: Vive l‘ Europe!

Bienvenue und Merci und bis zur nächsten Schlacht am warmen Brennofen! Au revoir? Au revoir! Da bin ich ziemlich sicher!

 

Erfurt, 19.05.2006 | Dr. Jutta Lindemann