Nana

Laudatio zur Vernissage des Kunstprojektes des Albert-Schweitzer-Gymnasiums am 07.06.2006 in der Stadtteilbibliothek Berliner Platz

Nana heißen sie alle. Soso! Nanu!? Aber wieso? Sie könnten doch auch Mimi, Lili, Lolo oder Coco heißen – oder? Warum also Nana?

 

Naja, das weiß natürlich jeder Kunstkenner: Ihre Mutter hat sie so genannt, die Mutter aller Nanas: Niki de Saint Phalle, weltberühmte Künstlerin des 20. Jahrhunderts, die um 1964/65 die ersten dieser kugeligen vergnügten Weibsbilder, sinnenfroh und lebensprall und vor allem allergisch gegen Modediktate, Waagen und Diäten, zum Leben erweckte – und danach noch eine unzählige bunte Schar davon, kleine und große, einige davon, so die in ihrem Tarotgarten in der Toskana, sogar begeh- und bewohnbar – die erste davon mit Namen „Sie“ entstand vor genau 40 Jahren in Stockholm und in einer ganz besonders großen von ihnen, der „Sphinx“, hatte sie sich sogar für einige Zeit häuslich eingerichtet wie ein Kind im Mutterleib.

 

Aha und oho! Denn genauso sollen sie auch sein: fruchtbare, wilde Urmütter – das Wort „Nana“ bedeutet im Französischen etwa „freches Mädchen“, aber mancher Literaturbewanderte wird sich auch an die üppige Schöne aus Emile Zolas gleichnamigem Roman erinnern, die zu ihrer Zeit, dem ausgehenden 19. Jahrhundert, ganz Paris in ihren Bann zog.

 

Umtanzt von diesen pfundigen Runden kriegt man doch gleich gewaltig Lust auf Schokotörtchen mit Schlagsahne!

 

Und vielleicht hat auch gerade das sie so berühmt gemacht im Zeitalter von Schlankheitswahn und Bulimie: dass sie Körperlust auf so direkte selbstbewusste Weise und mit solch überbordender unkonventioneller künstlerischer Fantasie demonstrieren! Für ihre Schöpferin waren sie nicht nur Symbol der fröhlichen befreiten Frau, sondern Vision eines neuen Matriarchats. Wahrscheinlich gibt es darum keine Männerversion – lebendige dicke Männer gibt es ja schließlich mehr als genug!

 

Das Symbolhafte an ihnen aber macht es auch möglich, sich zu eigenen Nanas oder auch Mimis, Lilis, Lulus, Lolos oder Cocos inspirieren zu lassen.

 

Sie machen einfach Lust auf mehr – in jederlei Hinsicht – und fordern mit ihrer klaren, aber auch vielseitigen Körpersprache und dem witzig-schrillen Mix von Farben und Dekoren geradezu zu spielerische Adaptionen und individuelle Metamorphosen des Gesehenen heraus. Und doch ist das gar nicht so leicht, wie es auf den ersten Blick aussieht! Das mussten auch die Schüler des Albert-Schweitzer-Gymnasiums erfahren.

 

Da galt es erst einmal etwas über die Nana-Mutter, die 1930 in einem Vorort von Paris geborene, 1971 durch Heirat mit dem Künstler Jean Tinguely zur Schweizerin und 1974 nach aufsehenerregenden Kunstprojekten auch Ehrenbürgerin von Hannover gewordene und schließlich 2002 im kalifornischen San Diego u. a. an den Folgen ihrer Arbeit durch die Nachwirkungen giftiger Polyesterdämpfe gestorbene Künstlerin zu erfahren, ihre ungewöhnliche Kunstwelt kennenzulernen und zu verstehen, um daraus eigene Nana-Variationen entwickeln zu können – zunächst als zeichnerische Entwürfe mit Stift und Pinsel, die oft schon so gut gelungen sind, dass sie durchaus als Bilder gelten und ausgestellt werden können.

 

Dann musste schrittweise aus der Bildfläche heraus der Raum erobert werden, zuerst mit kleinen Tonmodellen, dann schließlich mit Knüllpapier und Farbe in der endgültigen Größe. Mindestens 20 Stunden seit Projektbeginn im Februar stecken so in jedem dieser kleinen wilden Wesen – und die Erkenntnis, dass Kunstmachen harte Arbeit ist, mit dem Kopf und mit den Händen – und immer auch vom Risiko des Misslingens begleitet. Über die Möglichkeit, in diesem Geschöpf auch etwas von der eigenen Persönlichkeit in ihrem aktuellen Zustand auszudrücken, entwickelten sich bei vielen der beteiligten Schüler aus den Kunstkursen der 11. Klasse neue Fähigkeiten, und so mancher wuchs zu seiner und der Mitschüler und Lehrer Überraschung bei diesem Engagement über sich hinaus.

 

Und der aus diesen ganz persönlichen Intentionen entstandene Variationsreichtum erscheint schon im Figürlichen schier unerschöpflich: Auf geradezu zierlichen Füßchen graziös balancierend und schwebend oder wie Bacchantinnen tanzend, springend, hopsend, wirbelnd, Rad schlagend und sich überkugelnd in wilder Lebenslust recken Nana und Mimi, Lili, Lolo und Coco ihre prallen Hintern, Bäuche und Brüste – und das alles ganz ohne Silikon und trotz des Papiers wahrlich nicht von Pappe!

 

Aber dann die Farben – da geht vielleicht was ab!!!

 

Das sind nicht nur einfach poppige Wonderbras und knappe Tangaslips, flippige Hularöckchen und scharfe Hot pants in kecker Betonung eben gerade der üppigsten Kurven – eben mutige Mode für Übergrößen!

 

Nein – dieses Farbleuchten scheint ganz von innen zu kommen, aus dem großen wilden Nana-Herzen dieser Zauberwesen zwischen Fee und Hexe.

 

Von Kringeln umkreist und Streifen gestreichelt, mit Punkten betupft und Blüten übersät, leuchten Haut und Haare zwar auch manchmal schwarz und weiß, aber vor allem in schrillem Babypink und Sonnengelb, Apfelgrün und Himmelblau, in kühlem Türkis wie die Südsee und in glühendem Lila wie ein Sonnenuntergang am Strand.

 

Nana sein heißt: Farbe leben!

 

All das selbst zu spüren und zu erleben beim Entstehen dieser Geschöpfe – das allein ist eigentlich schon Gewinn genug!

 

Und doch setzt diese Ausstellung noch eins drauf, denn sie soll zum einen Lohn und Dank der monatelangen Mühe sein, zum anderen Ermutigung für alle Kreativen – nicht nur Frauen, aber ganz besonders Frauen! – sich vielleicht selbst einmal in das Abenteuer einer Nana-Geburt zu stürzen!

 

Und obwohl man ja eigentlich Frauen nicht miteinander vergleichen kann und soll, gab es auch hier eine Miss-Wahl mit drei Siegerinnen, denen statt der obligatorischen Schärpen und Krönchen allerdings ein etwas ungewöhnlicher Preis winkt: die Ganzkörper-Vergrößerung!

 

Daran wird bereits gearbeitet – von den Müttern und Vätern der Siegerinnen persönlich, von wem sonst! Denn am 1. Juli zum Brunnenfest im Rieth sollen sie die Stelle der leider durch Frostschäden zerstörten, ehemals dort angesiedelten Keramik-Brunnenfiguren des jüngst verstorbenen Malers und Bildhauers Eberhard Heiland einnehmen, bevor sie im Wohngebiet Rieth die Schule, die Bibliothek und die Kaufhalle in Aufruhr und Begeisterung versetzen werden.

 

Aber gewonnen haben eigentlich alle Beteiligten, und so soll auch allen Dank gesagt werden, nicht nur denen auf dem Siegertreppchen!

 

Auch dafür ist heute, umringt von all den wilden fröhlichen Weibskreaturen (rund 50, wenn ich richtig gezählt habe in all dem Wirbel), die beste Gelegenheit.

 

Besonders genannt sein sollen also heute die Lehrerinnen Sabine Glöckner und Cathrin Barske sowie die Künstlerin Jutta Mager für Idee und Betreuung, die Mütter und Väter der drei siegreichen Vegrößerungskandidatinnen Johanna Sonntag, Stephan Krell und Vyatscheslav Pyorushev sowie stellvertretend für alle anderen:

 

  • Evelyn Möller
  • Benjamin Schulz
  • Georg Schwenteck
  • Ngoc Anh Ha
  • Ulrike Mahnke
  • Maxi Nieber
  • Kay Urban
  • Diana Treiber
  • Enrico Schreiber

 

Nanu – Nana ist überall – das wäre wohl auch Nikis Fall!

 

Da bin ich jedenfalls ziemlich sicher: Diese Aktion hätte ihr riesig Spaß gemacht! Also feiern wir heute und in diesem Jahr der deutsch-französischen Begegnungen auch ein bisschen auf ihr Wohl und das der Kunst und aller Kreativen mit so lustigen anregenden Ideen, vor allem natürlich auf das Wohl der Künstler aus Frankreich, die wir derzeit aus diesem Anlass immer wieder – ob geistig oder auch konkret körperlich – in unserer Stadt begrüßen: Bienvenue á Erfurt! Und nicht nur in diesem Jahr.

Á votre santé, Nanas! Á votre santé, amis! Á ta santé, Niki!

 

Erfurt, 5. Juni 2006 | Dr. Jutta Lindemann