Fossile Nüsse im Paradies

Laudatio zu den Ausstellungen Karl-Heinz Appelt „Leitfossilien/Genüsse-Gen-Nüsse“ und „Paradies auf Erden“-Emailkurs der Walter-Gropius-Schule Erfurt im Kulturhof Krönbacken/Galerie Waidspeicher am 16.07.2005

Warum eigentlich sollen wir Sehnsucht nach dem Paradies haben, in drei Teufels Namen? Wie isses denn da überhaupt in Wirklichkeit? Vor allem jetzt, wo doch alle interessanten Leute weg sind – einschließlich der schlauen Schlange?

 

Auf jeden Fall muss es sich seit Adams und Evas Zeiten mächtig verändert haben – und sicherlich sehr zu seinem Vorteil, so ganz ohne Menschen, wenn abwechselnd Adler und Affen, Kobras und Kühe, Ziegen und Zebras regieren. Vielleicht ist es ja aber auch so geregelt wie auf den „Glücklichen Inseln hinter dem Winde“ im gleichnamigen Kinderbuch von James Krüss, wo nach dem Alphabet regiert wird, und zwar alle Lebewesen gemeinsam, auch die Pflanzen.

 

Und die dort allerdings, aber unter „ferner liefen“, lebenden Menschen teilen sich am M-Tag die Macht mit Möpsen, Murmeltieren, Moos und Mandelbäumen – sehr weise, um jedermanns Wünsche miteinander in Einklang zu bringen.

 

Denn was die Alleinherrschaft des Menschen und seine spezifischen Vorstellungen von Vollkommenheit anrichten können, haben wir jetzt schon täglich auszubaden, eingekreist von geometrischem Gengemüse und silikongestylten Superbodys.

 

Wollen wir unter diesen Umständen allen Ernstes eigentlich noch wissen, was die Zukunft bringen könnte? Oder gibt es am Ende Alternativen aus dem Zauberreich Phantasia? Paradiese von Künstlerhand? Zumindest in unseren Köpfen … ?

Das Paradies im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit?

Die Suche geht weiter.

 

Zunächst ist es die konsequente Negation paradiesischer Unschuld, die unsere Gedanken- und Gefühlswelt in ihrer Harmonieseligkeit aus dem Gleichgewicht bringt.

 

Im Untergeschoss der Galerie Waidspeicher präsentiert Bildhauer Karl-Heinz Appelt aus dem thüringischen Kahla Resultate seiner langjährigen künstlerischen Analysen zur Horrorvision der komplexen Genmanipulation unseres Alltags.

 

Ausgangspunkt seiner bildnerischen Versuchsreihen ist die Frage, welche zeitmarkanten Überbleibsel, wissenschaftlich als „Leitfossilien“ bezeichnet, unsere Zivilisation den Händen künftiger Archäologen hinterlassen wird.

 

Prägungen mit anderen Objekten schärften seinen Blick für vornehmlich im Umfeld von Baustellen aufgefundene zerdrückte und breitgefahrene Getränkedosen. Diese Strukturen – einerseits sich wiederholende unveränderbare markante Grundelemente wie Verschlüsse und Deckflächen, andererseits unendlich variable Faltungen des Korpus – regten ihn zu seriellen Arbeiten an.

 

Getragen wurde dieses Interesse von einer jahrelang realisierten bildhauerischen Konzeption der Kontraste zwischen perfekt glatten und lebendig strukturierten Oberflächen.

 

Eine weitere Beschäftigung galt Leitfossilien für verschiedene Erdzeitalter wie etwa den allbekannten Trilobiten mit ihrer unverwechselbar ausgeprägten Körperlichkeit – Individuum und Massenerscheinung zugleich, die Erdschichten als materialisierte und durch die gegenständlichen Funde eindeutig markierte Zeitebenen der Vergangenheit sinnlich erlebbar machen. Zusammengeführt ergaben sie den Themenkomplex „Leitfossilien der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Die für erdgeschichtliche Leitfossilien zutreffenden Parameter erschienen Appelt ebenso übertragbar auf diese Funde wie das Vorhandensein in ausreichender Anzahl in einem relativ begrenzten zeitlichen Rahmen (etwa 50 Jahre bezogen auf die massenweise Verwendung von Dosen).

 

Diese Überlegungen erhielten durch die Diskussion um das Dosenpfand eine überraschende Aktualität. Es entstand eine Vielzahl von – wider besseres Wissen um das Ausgangsprodukt – ästhetisch reizvollen und spannungsvoll in Szene gesetzten Prägungen auf Papier, ein – und mehrfarbig, und Bleifolie sowie Fotos und Objekte, bei denen zugleich mit verschiedenen Formenmetamorphosen und Ordnungssystemen vom wissenschaftlich strengen Raster bis zum freien, wie zufällig am Fundort verstreuten Rhythmus zwischen Grafik, Readymade-Montage und collagiertem Relief experimentiert wird.

 

Ebenso auf der Schnittstelle von Raum und Zeit angesiedelt sind die gegeneinander gefügten und vor allem in ihrer materiellen wie ideellen Vergänglichkeit graduierten Motivausschnitte individueller rund 300 Jahre alter Bauernmalerei einerseits und globalisiert seriell-maschinell gefertigte elektronische Datenträger andererseits.

 

Vergänglichkeit im Alltäglichen demonstriert sinnlich fassbar die ästhetisch kultiviert geordnete Ansammlung farbiger Brotfolienverschlüsse als Umfeld oder Background für die erhaben in edle Ewigkeit eingegossene Brotreliquie.

 

Die „Gen-Nüsse/Genüsse“ versöhnen uns nur auf den ersten Blick ob ihrer reizvoll klaren Kompositionen fast mit unserem Schicksal als Bewohner einer (von uns selbst so geschaffenen) seriell geprägten Welt der manipulierten Mutanten – hier Erdnussklone aus Kunst- und Epoxydharz, mal sanft schimmernd wie kostbare Kristalle, mal lustig und laut lackbunt leuchtend – persiflieren aber auf den zweiten unsere Sehnsucht (paradiesischer?) Perfektion und machen auf den dritten Gänsehaut … vor den unabsehbaren und wahrscheinlich dann auch unkontrollierbaren Folgen. Läuft da nicht doch etwas gewaltig aus dem Ruder?

 

Diese unmissverständliche Ansage wirkt vielleicht schneller und stärker, in jedem Fall emotionaler und damit möglicherweise nachhaltiger als ein (natürlich unerläßlicher) wissenschaftlich untersetzter Feldzug gegen die unkontrollierbaren Konsequenzen der Genmanipulation.

 

Denn bei allem möglicherweise zuweilen sogar erstrebenswerten Schneller-Höher-Weiter, dem sich Wissenschaft und Wirtschaft, Markt und Medien heute händchenhaltend froh entgegenstürzen – sollten wir wirklich das wollen, was wir da ahnen?

Mitschurin rotiert im Grabe – oder lacht er schadenfroh aus der Hölle herauf?

Und wie war das doch gleich mit diesen netten kleinen Tierchen, diesen Lemmingen?

 

Karl-Heinz Appelt, der – in diesem Jahr 65-jährig – auf eine veritable Lebensleistung als studierter Bildhauer und zahlreiche, auch überregionale Ausstellungen zurückblicken kann, auch als interessanter, sensibler Zeichner hervorgetreten ist und wohl auch von daher seit fast 15 Jahren mit einem Lehrauftrag an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig betraut ist, weiß genau, was er will und was tut, denn er ist ein sehr ernsthafter und verantwortungsvoller Mensch, besorgt um Kommendes, das im Gegenwärtigen sich abzeichnet und seine Wurzeln hat.

 

Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Zeit und den eben nur in ihr erfahrbaren Metamorphosen alles Lebendigen lsst sich zurückführen auf ein Schlüsselerlebnis seines Studienaufenthalts in Dresden, durch den ihn eine Uhr in seiner Pension am berühmten Blauen Wunder begleitete, deren Ecken die auf diese Weise geheimnisvoll zueinander in Beziehung gesetzten Worte schmückte: „Der-Uhr–Kunst-Zeit“.

 

Damit ist Appelt – wie man sehen und lesen kann – bis heute nicht fertig geworden. Naja – kein Wunder all das am Blauen Wunder! Nomen est Omen!

Und er nimmt das serielle Arbeiten dabei absichtsvoll und hintergründig in den Dienst der Bedeutungsambivalenz und setzt so auch uns mit auf die Spur an.

Wird sich das Mysterium zu gegebener Zeit enthüllen lassen?

Kunstausstellungen sind wohl eher dazu angetan, Fragen zu stellen, als sie zu beantworten. Und wozu gibt es schließlich Vernissagen …

 

Direkt beim Wort genommen haben (junge!) Schüler und Absolventen der Walter-Gropius-Schule Erfurt mit ihrem Lehrer während des Praktikums Industrieemail, dem Erfurter Metallkünstler Johannes Kaiser, das Jahresthema der Stadt Erfurt „Sehnsucht nach dem Paradies – Wege zur jungen Kunst“. Sie haben sich nämlich in ihr „Paradies auf Erden“ eingemietet zum Arbeiten: in die Künstlerwerkstätten der Stadt Erfurt.

 

Seit 1998 besteht für die Gestaltungsabiturienten die Möglichkeit, auf diese Weise die Möglichkeiten von Industrieemail für sich zu entdecken, und sie wird von jährlich mindestens 10 Schülern intensiv genutzt. Und auch viele „Ehemalige“ kehren immer wieder gerne in die Künstlerwerkstätten zurück. Daraus entstand ein „harter Kern“, ein Kreis von Emailfreunden, der sich in der Ausstellung im Obergeschoss der Galerie Waidspeicher des Kulturhofs Krönbacken gemeinsam mit dem aktuellen Kurs erstmals vorstellt.

 

Und so empfinden sie die Voraussetzung für alles, das Arbeiten in den Künstlerwerkstätten, als Wirken in einem fruchtbaren Garten Eden inmitten des Erfurter Nordens – des Rieths, aus dem sie sich auch sicherlich nicht so bald vertreiben lassen wollen – von wem und warum auch immer.

(Den Apfel der Erkenntnis brauchen sie nämlich möglicherweise gar nicht mehr … Außerdem reifen am Baum gleichen Namens in diesem ganz besonderen Paradies immer wieder neue und überraschende Früchte!)

Die (meist) harmonische Atmosphäre schlägt sich deutlich in der inneren Stimmigkeit und hervorragenden technischen Qualität der Exponate nieder.

Schwerpunkt der Ausstellung sind natürlich die Emailarbeiten, überwiegend auf Herdplatten gebrannt, die dem Recycling entrissen wurden, ergänzt durch Materialcollagen und Fotos; es entstanden aber auch Schalen und Tassen.

 

Der diesjährige Metallkurs widerspiegelt zudem eindrucksvoll die im Wortsinn gründliche, umfangreiche und systematische, zuweilen auch genreübergreifende Arbeit, die über einen längeren Zeitraum bereits als Schulprojekt des Kurses existierte und in den Künstlerwerkstätten nun Gestalt annahm: Im Themenkomplex „Strukturen“ analysierte der Kurs beispielsweise die Partitur eines Songs und setzte Melodie und Rhythmik für eine eigene Gestaltung ein.

 

Aus dem Song „Shadehead“ wurde so der „Circle of Shadehead“, ein durchbrochener Kreis aus emaillierten Kupferplatten, der im Mittelpunkt der Ausstellung liegt. Die eingesetzten Techniken für die Gestaltung der Platten verschmelzen hier wie oft sehr inspiriert (und ganz „emailisch“!) mit anderen Berufs- und/oder Erfahrungsbereichen der jungen Künstler, sei es Restaurierung oder Graffiti, 3D-Konstruktion oder Bleistiftzeichnung – die Experimentierfelder sind so vielfältig wie die Talente.

 

Und ebenso breit gefächert und kontrastreich erscheinen die sukzessive sich herausprägenden und wandelnden individuellen bildnerischen Handschriften der einzelnen Protagonisten, die Ihre Paradiese doch in sehr unterschiedlichen Parallelwelten suchten und zumeist auch fanden: Landschaften, Porträts und konfliktreiche menschliche Beziehungen, Mikro-Makro-Strukturen der Alltagswelt und mehr oder weniger heilen Natur oder einfach synästhetische Widerspiegelungen sinnlicher Erfahrungen wie etwa der akustischen – malerisch oder grafisch, zeichenhaft dekorativ oder bildnerisch differenziert, Bildzeichensprachen von Romantik bis Cartoon, Tafelbild bis Pictogramm, abgeklärt und ausgefeilt oder suchend und offen – und verblüffend erfahren und zugleich experimentell im Umgang mit den besonderen Möglichkeiten der Industrieemailtechnik, mit den Methoden der Schablonierung, der Sprüh- und Reservierungstechniken, der Schichtungen transluzider Farbebenen, und ihrer gezielten Nutzung für eine ganz bestimmte Aussageabsicht.

 

Dabei sind die vorgestellten Resultate als gegenständliches Manifest oft nur Endpunkt oder Schnittstelle einer vom einzelnen, aber auch in der Gruppe innerhalb eines als wichtig erlebten Kommunikationsprozesses geführten Auseinandersetzung mit den ganz persönlichen Imaginationen vom Paradies, unter dessen dünnem, zuweilen schwankendem Boden nicht selten der Höllenschlund brodelt – gelegentlich aber auch winkt von oben der Himmel!

 

Ja doch – paradiesisch und für das weitere Leben unvergesslich (sagen zumindest die daraus zeitweilig oder dauerhaft , wenn auch zumeist freiwillig Vertriebenen) ist ein solches Arbeiten in der Gruppe und in der Konzentration an einem solchen Ort wie den Künstlerwerkstätten Erfurt!

 

Zum Konzept der Ausstellung gehört es daher auch, dem Besucher diese besondere Arbeitsatmosphäre näher zu bringen, ihn fiktiv in das paradiesische Leben, will sagen in einen Arbeitsprozess höchster Kreativität einzubinden. Zu diesem Zweck werden in Form von Materialcollagen einige repräsentative Arbeitstische gestaltet, eine Fotostrecke gezeigt und mit ambienter Musik ein akustischer Rahmen geschaffen – Anregung für potentielle künftige Nutzer der Werkstätten – und ein bisschen auch wehmütige Erinnerung an eine Hoch-Zeit.

 

Und im vorteilhaften Gegensatz zum mystischen Garten Eden darf man an diesen konkreten Ort immer wieder zurückkehren.

Und das spirituell-virtuelle Wunsch- und Traumparadies? Nun doch unter Hawais Palmen, am Spielautomaten in Las Vegas oder oder hinter den Tresortüren der globalen Finanzwelt? Blicken wir doch einfach vom Spiegel der Kunst zurück mittenmang in unser eigenes und nicht nur in diesem Jubeljahr in allen Facetten des Lebens schillerndes Ego! Und wenn wir es da nicht finden – selber schuld!!!

In James Krüss’ zu Unrecht vergessenem und bereits eingangs zitiertem Kinderbuch „Die Glücklichen Inseln hinter dem Winde“ schließt der berichtende Kapitän seine Erzählung mit den Worten:

„Es gibt viele Glückliche Inseln unter der Sonne! Gute Nacht, lieber Herr!“

 

Erfurt, 16.07.05 | Dr. Jutta Lindemann