Harald Lange

Ausstellung – Bilderhandlung Marktstraße 5. Oktober 2010

Harald Lange kenne ich nunmehr seit über 40 Jahren, und wenn ich bei jemandem von Beginn an erleben konnte, dass er das Prinzip Freiheit mit konsequenter Kompromisslosigkeit verkörpert hat, dann bei ihm.

 

In unserer 1967 für die Fachkombination Kunsterziehung und Deutsch am damaligen Pädagogischen Institut immatrikulierten Seminargruppe war Harald von Beginn an der geheimnisumwitterte Outlaw, das Enfant terrible, der Desparado, der – im Gegensatz zu den meisten von uns – schon eine Biografie hatte, ein Leben voller Erfahrungen, die wir, die wohlerzogenen Abiturientinnen, uns kaum vorstellen konnten.

 

Meine erste eindrucksvolle Erinnerung ist ein Harald mit langen schwarzen Haaren als Pferdelenker auf dem Bauernwagen beim Ernteeinsatz in Mecklenburg vor Beginn des Studiums im Herbst 67, denn Natur und Tiere waren seit seinen elementaren Erfahrungen in der großelterlichen Landwirtschaft und sind noch heute ein unersetzlicher Teil seines Lebens. Nicht von ungefähr sagt seine Frau Ursel, die große und bis heute dauerhafte Liebe seines Lebens, von ihm: „Setzte man uns auf eine Insel aus, mit dem Mann würden wir überleben.“

 

Seine Kunst zeigt daher folgerichtig schon immer und noch heute bis in liebevoll gesehene Details hinein eine tiefe Verehrung vor dem kleinsten Leben, denn er achtet nichts gering.

 

Harald blieb weiter in jeder Hinsicht der bunte Hund in unserer KD 67, der manches Mal auch auf uns abfärbte. Sicherlich ist es wesentlich ihm zu verdanken, dass noch nachfolgende Seminargruppen davor gewarnt wurden, so zu werden wie wir. Darüber können wir heute bei einem unserer häufigen Treffen, zu denen uns allen – den „blöden Weibern“ – Harald eine neue Grafik mitzubringen nie vergisst, gemeinsam lachen – damals war das allerdings wohl nicht lustig gemeint. Nicht nur, dass er beispielsweise solche als gefährlich apostrophierten Autoren wie Nietzsche las oder im ML-Seminar die möglicherweise deshalb häufig wechselnden Lehrkräfte regelmäßig in Erklärungsnöte stürzte – nein, er malte auch noch freiwillig und mit Besessenheit ganz anders, als man es uns lehrte. Doch auch sonst deckten sich Haralds Vorstellungen vom Lehrerberuf offensichtlich vom ersten Tag an nicht mit dem Ausbildungsprogramm. Vor allem anderen aber war er mit so konsequenter Leidenschaft Künstler, dass dies bald sein Leben entscheidend bestimmte; Grammatik oder etwa Didaktik konnten ihm dagegen bedeutend weniger Begeisterung entlocken.

 

Harald war so etwas wie der Bohémien vom Fischersand, und in sein abenteuerliches Wohnatelier dort zog es uns immer wieder, um seine neuen Blätter zu sehen oder ungewöhnliche Literatur zu hören, die nicht im Lehrplan stand. Harald und seine Freunde am Fischersand brachten Bewegung in unseren mehr oder manchmal auch weniger braven Studienalltag – fernab von den Konzepten geplanter FDJ-Nachmittage. Unvergessen sind mir Biermann-Lesungen, eine eigene Seminargruppenfahne oder auch die Debatten um den alten abstrakten Maler Meisel und dessen eindringliche Begräbnisfeier, aber auch die heftigen Anwürfe der Hochschulleitung gegen unser eigenes Seminargruppenabzeichen – wegen offenbar gefährlicher Zeichen von „kleinbürgerlichem Separatismus“ und auch eben wegen jenes Wortes „Bohéme“ darauf – vielleicht ein Synonym für eine fast naive, aber unverstellte Sehnsucht nach eben jener Freiheit, die sich für uns irgendwie auch mit dem Künstlerleben um den Pariser Montmartre verband, dem wir uns nahe wähnten, wenn wir mit Malköfferchen, Baskenmütze und langem Schal in Richtung „Hügel“ wanderten. Denn dort öffnete sich auch für uns einmal wöchentlich die Tür zur unendlichen freien Welt der Kunst – wenn auch nur einen Spalt breit. Und zu denen, die sie ein wenig weiter offenhielten, gehörten eigenwillige und ungebrochene Künstlerpersönlichkeiten von verehrungswürdiger menschlicher Größe wie Rudolf Franke – auch für Harald ein wichtiger und noch heute hoch verehrter Lehrer – ebenso wie es dann im gleichen Geiste auch Alfred Traugott Mörstedt wurde – beider sollte daher heute aus diesem Anlass ehrend gedacht werden. Doch für Harald, der sich weit jenseits des Lehrplanes mit Literatur und Philosophie beschäftigte, wurden schon damals grundsätzliche Lebensfragen wichtig, und er suchte auch in der Kunst nach Antworten.

 

Harald bringt es heute für sich auf eine ähnliche Formel, wenn er sagt:

 

Meine Überzeugungen zur geistigen Menschwerdung heißen Christentum, Aufklärung und Romantik. Der Wille zur Darstellung war immer dieser Hintergrund, also der Anspruch auf Intellektualität. Letztendlich wurde ich vom Lesen abhängig, eine günstige Droge. Grübeln und arbeiten sind das Resultat. Leichtfertigkeiten und Schleimscheißereien sind mir fremd.

 

Zwingend war und ist Harald also nicht nur mit ganzer Seele Künstler, sondern auch ein Zoon politicon, der sein Herz auf der Zunge trägt.

 

Das brachte ihm seinerzeit naturgemäß nicht nur Freunde ein. Obwohl er nach einem externen Kunststudium in Leipzig und Aufnahme in den VBK als freiberuflicher Künstler und Familienvater in Erfurt Mitte der 70er Jahre seinen Platz fürs Leben gefunden zu haben glaubte, blieb ihm rund 10 Jahre später nach Verfolgungen und zum Teil handgreiflichen Verhören durch die Stasi wegen eines missverstandenen Grafikzyklus, dessen Druckplatten eingezogen und vernichtet wurden, nur noch – aus familiären Gründen statt des Westens – die „kleine Flatter“ in den Norden, nach Vorpommern.

 

Doch obwohl ihm seine Mühle eine echte Heimstatt geworden ist – die Fäden nach Erfurt sind nie abgerissen, die Wurzeln wurden nie ausgegraben, und unser aller Leben sind – durch das Vergangene, das doch nie ganz vorbei ist, aber auch durch die Kunst – noch miteinander verbunden.

 

Blätter von Harald haben mich prägend durch meine wechselnden Wohnungen begleitet: von farbglühenden Aquarellen aus den 70ern mit mystischer Personage auf feintexturierten Fonds über tonig schwarzweiße Radierungen und Lithos aus den 80ern voll mythologischer Gestalten und Fabelwesen, verschmolzen mit fantastischen Landschaften, gefügt aus feinsten, tief verdichteten grafischen Zeichen von malerischer Differenziertheit bis hin zu intensiv beobachteten kleinen feinen Naturstudien. Das Zeichnen, die geistige Überhöhung von Gesehenem oder Gedachtem durch den unendlichen Ausdrucksreichtum der empfindsamen Linie, steht seit jeher im Mittelpunkt seines künstlerischen Herantastens an die große Wahrheit im Geist der Erfurter Schule eines Franke und Mörstedt und anderer, der er sich noch immer zugehörig fühlt.

 

Haralds Themenkreise entstammen neben der Natur als Symbol für seine Hochachtung vor dem Leben und für eine sehr persönliche, täglich in Haus und Garten praktisch gelebte Bodenständigkeit, die auch der fokussierten Naturbeobachtung dient, vor allem der Geschichte, Philosophie und Literatur (so etwa Hegel, Heidegger, Goethe und der besonders verehrte Schiller), wobei, wie er selbst sagt, ähnlich dem Simultanschach sowohl die Themenbereiche als auch unterschiedliche Gedankenebenen einander überlagern und dadurch ambivalente Deutungsmöglichkeiten aufbrechen, aber auch wie in jeder guten Kunst Geheimnisse offen lassen.

 

Und nachdem er sich in den 60er und frühen 70er Jahren noch von der Formensprache etwa der Nabis, vielleicht auch ein wenig von Edvard Munch, inspirieren und dann eine Nähe zur Wiener Schule, vor allem zu Rudolf Hausner, erkennen ließ, schälte sich aus diesen Hüllen immer wieder das Eigene in der Rückkehr zu den Quellen, zur Bewahrung des Ehrlichen, Einfachen, Klaren in der Grafik wie in der Malerei heraus – das Bekenntnis zur gezeichneten Linie als struktur- und bedeutungstragendem Grundelement, gewissermaßen lebenssicherndem Knochengerüst und Aderwerk für den lebendigen Korpus des Bildes. Farben begleiten und bestärken die Gedankenführung der Linien in unterschiedlicher Intensität. Sie betonen und modellieren entweder mit pastellig verhaltenen Tonwerten das grafische Blatt überziehende Bleistiftschraffuren oder treten auf den Tafelbildern als leuchtende, massive Flächen kämpferisch gegeneinander an, die zuweilen von fein ziselierten Ornamentteppichen in ihrer Intensität gemildert oder auch von entschieden gesetzten Pinselstrichen kräftig und kontrastreich akzentuiert werden.

 

Eher in die großformatige Malerei als in die bewusster klassisch formulierten grafischen Blätter und Collagen bricht unvermittelt immer wieder die oft schroffe Zeichenwelt des Zeitalters der elektronischen Medien ein – Brüche, die zugleich auch Brücke sein können zwischen der vom Kenner und Könner bewahrten akademischen Kunsttradition und der rasanten Welt von Comic, Graffiti und WorldWideWeb, die häufig doch auch wieder auf bewährtes, Jahrtausende altes Formenvokabular zurückgreift. Des exzellenten Kunst- und Geschichtskenners Figurenwelt speist sich daher ebenso aus der antiken, ägyptischen und germanischen Mythologie wie aus der christlichen Ikonografie des Mittelalters, der Renaissance, aber auch aus den visionären Bildfindungen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. Seine Helden – und eben auch Antihelden – sind Ikarus und Undine, Mona Lisa und Maria neben Göttern, Amazonen, Filmdiven und anonymen Schönheiten, sind berühmte und berüchtigte Gestalten der Historie wie Diktatoren, Literaten und Philosophen (deren Worte zuweilen das Bild ergänzen) – und alle miteinander werden in nachdenkenswert ungewohnte Zusammenhänge gesetzt. Aber auch Harald Langes Landschaften aus Felsen wie Drachenrücken und Bäumen wie vielfingrige Hände bevölkern mystische Wesen: stolze Adler und fliegende Fische, bedrohliche Echsen und kribblige Insekten, und nicht selten verschmelzen sie in fließenden Metamorphosen zu neuen Schöpfungen.

 

Schneckenhäuser bilden allenthalben Zuflucht, Schädel und schwebende Organe von geradezu floraler Schönheit erinnern an das ewige „Stirb und Werde!“

 

Dieser bildgewordene Clash der Zeiten und Welten mit der alptraumhaften Fülle ihrer Kreaturen – der äußeren ebenso wie einer eigenen inneren widerspruchsvollen Wirklichkeit entsprungen, daher logischerweise oft im Gegensatz zu gewohnten Sehweisen formuliert und nicht selten von einem zivilisationskritischen Unterton durchzogen – spiegelt nicht nur die kaum noch vom einzelnen zu fassende Informationslawine unserer Zeit, sondern auch die täglich brodelnde Auseinandersetzung des Künstlers mit ihr, gefiltert durch sein Herz, sein Empfinden, seine Empathie, die jedoch niemals, auch angesichts schlimmster Abgründe, zur Sympathie mit dem Teufel verführt, sondern verlässlich in einem tief humanitär gestimmten Verantwortungsgefühl für das Fortbestehen der lebenden Welt verankert bleibt, in deren Getümmel er sich mitten hinein stellt, denn eins ist er vor allem: Moralist. Sichtbar treffen dabei der Grübler und Beobachter auf den unberechenbaren emotionalen Vulkan, die spielerisch-abstrakt ihre aufeinander prallenden Kräfte bereits im kleinen Format erproben, miniaturgleichen Aquarellen und Collagen, die wie Studien daherkommen, aber doch in sich abgeschlossene kostbare Bildwerke sind, quasi bildnerische Aphorismen.

 

Nichts liegt dem Künstler jedoch bei allem ferner als oberflächlich-äußerliche Perfektionierung. So bleibt alles trotz hervorragend beherrschten Handwerks direkt aus der Seele geschrieben, tagtäglich aus einer reichen Gedankenwelt und dem innerem Erleben von Wut und Verzweiflung, aber auch von Lust und Leidenschaft hervorbrechend und daher auch zum Glück noch immer spürbar undressiert, ungebändigt und ungebärdig, anstatt im Labyrinth artifzieller Kunstfertigkeit seinen Biss zu verlieren. Und die bravourös beherrschte Zeichnung ist immer wieder Ursprung und dominantes Regulativ des Findungsprozesses, daher tritt für mich insgesamt der Zeichner vor den Maler, dessen zwar stark sinnliche Kunst doch immer von einer tiefen Geistigkeit getragen wird.

 

Nicht oft präsentierte Harald Lange sich in der Öffentlichkeit; noch immer stolz ist er in Erinnerung der DDR-Zeit auf eine Ausstellung in der legendären Galerie am Sachsenplatz in Leipzig und auf verschiedene Ausstellungsbeteiligungen zur Antikerezeption. Daher ist dieser Tag heute etwas Besonderes: Die Eröffnung der ersten Erfurter Ausstellung von Harald Lange seit damals, die länger zu sehen sein wird als nur einen Abend, ist auch ein bisschen Rückkehr des verlorenen Sohnes, aber vielleicht ebenso Triumph über alles, was ihm hier widerfuhr.

 

Und die hier präsentierte Auswahl von ca. 150 Arbeiten zumeist der letzten Jahre aus einem über Jahrzehnte in seinem Mecklenburger Mühlenatelier gewachsenen, schier unübersehbaren und wohl auch noch nicht systematisch aufgearbeiteten Oeuvre charakterisiert markant sein vielschichtiges Konzept.

 

Der mit Wassily Kandinsky und Gabriele Münter befreundeten Malerin Marianne von Werefkin, Lebensgefährtin Alexanders von Jawlensky, wird der folgende und wohl selbst tief erfahrene Gedanke zugeschrieben, der auch Werk und Wirken von Harald Lange auf den Punkt bringt: Die Kunst, das sind Funken, die aus der Reibung des Individuums mit dem Leben entstehen.

 

Erfurt, Oktober 2010  |  Dr. Jutta Lindemann