Almut & Winifred Zielonka

Der Mensch zwischen göttlichem und animalischem Sein

Malerei, Grafik, Plastik – Michaeliskirche Erfurt – Laudatio zur Vernissage am 11.11.2006

Weit über die persönliche Verwandtschaft hinaus, durch Namensgleichheit äußerlich demonstriert, wird mit dem ersten Blick auf das künstlerische Werk die tiefe Seelenverwandtschaft von Großmutter und Enkelin offenkundig: Nicht nur das Thema dieser ersten gemeinsamen Ausstellung, das beiden wohl ein Lebensanliegen ist, verbindet zwei Künstlerpersönlichkeiten, sondern vor allem eine Haltung zu unserem Sein, die zutiefst geprägt ist von liebevoller und aufmerksamer Hinwendung zur Schöpfung in ihrer unendlichen Fülle zwischen Licht und Schatten, Bitternis und Freude, Leben und Sterben und dem unübersehbaren Reichtum der Werte, Töne, Klänge im Kreis dieser Polarität, die einander in sensibler Balance zu einer spannungsvollen Harmonie ergänzen.

Ich möchte zwei große Weltweise mit ihren Gedanken die folgenden Überlegungen zum Schaffen beider Frauen begleiten lassen, denn ich meine, der chinesische Begründer des Taoismus, Lao Tse, und der deutsche Meister der mittelalterlichen Mystik, Meister Eckart, geben die besten Interpretationen vom tieferen Sinn dieser Kunst.

 

Alle wissen, dass schön das Schön – so gibt es das Hässliche.

Alle wissen, dass gut das Gute – so gibt es das Böse.

Denn:

Voll und leer gebären einander,

leicht und schwer vollbringen einander,

lang und kurz bedingen einander,

hoch und niedrig bezwingen einander,

Klang und Ton stimmen einander,

vorher und nachher folgen einander.

Darum tut der Weise ohne Taten,

bringt Belehrung ohne Worte.

So gedeihen die Dinge ohne Widerstand,

so lässt er sie wachsen und besitzt sie nicht,

tut und verlangt nichts für sich,

nimmt nichts für sich, was er vollbracht.

Und da er nichts nimmt,

verliert er nichts.

 

In solcher Weise der Wesenhaftigkeit alles Lebendigen verpflichteter Kunst gelingt es, hinter realen Erscheinungen der dinglichen Wirklichkeit die Seele der Welt spürbar werden zu lassen.

 

Trotz sehr unterschiedlicher bildnerischer Ansätze ist dem Ouevre von Großmutter und Enkelin eine Kraft der Stille, eine Ruhe der Weite und die Fähigkeit gemeinsam, das Ungesagte hörbar, eine Welt hinter der Welt sichtbar zu machen, die unserem eigenen Denken und Fühlen Raum lässt, Eigenes hinzuzufügen, das wir – motiviert durch den Impuls der Kunst – gerade erst in uns zu entdecken beginnen.

 

Almut Zielonka schafft aus einem feinsinnigen malerischen Farbempfinden heraus vielschichtig strukturierte Räume, die entweder von sprechender Leere sind oder zuweilen aus schattigen Gründen mit verhaltener Gestik Lebewesen zwischen Mensch und Tier in verfließenden Grenzen ihrer Wesenheiten freigeben, einsam oder in behutsamen Begegnungen, einander seelenverbunden, auf der Suche nach Nähe und Wärme, nach dem anderen und dem eigenen Ich im anderen. Sie verharren im Unterwegssein innerhalb der zufälligen Bildgrenzen, jederzeit bereit, sich in die schützenden Schatten ihrer Welt zurückzuziehen, falls unser Blick zu tief in ihre Geheimnisse zu dringen droht. Unsere verständnisvolle Nachdenklichkeit macht sie jedoch zu unseren Begleitern durch die farbgraue Dämmerung zwischen Tag und Traum, die unter jedem Pinselzug oder jedem Strich der ebenfalls malerisch aus Scharffurschleiern erwachsenden Zeichnungen Tiefen und auch Untiefen unseres Inneren für Augenblicke erahnen lässt. Denn hinter den schützenden grauen Nebeln verbirgt sich nichts weniger als eine aufmerksame Freude an allem Lebendigem – nicht überschäumend, aber umso tiefer gegründet – und eine leidenschaftliche, unbezähmbare Lust am Malen, am unerschöpflichen Reichtum des Mysteriums eines uns immer aufs neue unrettbar anrührenden Zusammenklangs von Farben und Formen.

 

Hinter all der zuerst fast überwältigenden Düsternis und Schwermut, in manchen wie zufällig gesehenen und doch überlegt gebauten Bildkompositionen aus blitzartig erhellten Einblicken in die Wirklichkeit der Sehweise des großen amerikanischen Malers der Einsamkeit Edward Hopper sehr nahe, verbirgt sich jedoch eine tief gefühlte Hoffnung auf heilende Liebe, die den gründlichen Betrachter sehr unmittelbar ergreift. Sie ist die wohl die entscheidende Kraft, um, begleitet vom formenden Willen der Künstlerin, diese sinnliche ernsthafte Malerei fast wie von selbst und doch mit der unendlichen Mühe jedes kleinsten Schrittes vom Gesehenen mitten durch ein weit offenes und so auch immer wieder verwundbares Herz auf der Leinwand heranwachsen zu lassen.

 

Und da sind väterlich, brüderlich an ihrer Seite auch Michelangelo, Goya, Munch zu sehen, und die Bibel und die großen antiken Dramatiker bis hin zum Renaissancedicher Dante liefern den Stoff für schlichte, schweigsame Szenarien von tragischer Wucht.

 

Erreiche den Gipfel der Leere,

bewahre die Fülle der Ruhe,

und alle Dinge werden gedeihen.

So kann ich ihre Rückkehr erschauen.

Von allen Dingen in ihrer Vielfalt

findet ein jedes zurück zur Wurzel.

Wurzelwiederfinden heißt Stille –

was man nennen mag: Rückkehr zum Wesen.

 

So wie Almut Zielonka aus Farbschatten sehnsuchtsvolles Leben behutsam, doch intensiv hervorquellen lässt, so entsteht in Winifred Zielonkas Bilderwelt Leben aus Licht.

 

In manchen Seelen wohnt so tief die Kindheit, dass sie den Zauber niemals ganz durchbrechen. (Hermann Hesse: Gedichte, I,97)

 

Eine solche Seele, erfüllt vom Zauber des immer neuen, reinen Staunens über das Schöne der Welt, trägt wohl Winifred Zielonka in sich, deren Leben seit jeher davon erfüllt ist, diesem Schönen Gestalt zu verleihen.

 

Als Tochter eines Organisten mit Kunst aufgewachsen und frühzeitig künstlerisch gebildet, ist sie auch gegen die Widerstände der Zeit dem für sie einzig möglichen Weg des Gestaltens konsequent gefolgt, einem Weg, der ihrer individuellen Weltsicht entspricht: den damals gesellschaftlich nicht akzeptierten und auch heute durchaus nicht dem philosophischen Mainstream angepassten Lehren der Anthroposophie eines Rudolf Steiner. Aber gerade darauf ist sicherlich zurückzuführen, dass ihr bildnerisches Werk von so authentischer Ausstrahlungskraft ist, überzeugend durch seine Verinnerlichung, die Kraft eines in Harmonie mit der Welt und in sich ruhenden Geistes, der die Quellen seines künstlerischen Ausdrucks adäquat in den Ideen der Steinerschen Lehre gefunden hat. Ihre Arbeiten leben vom Licht, das sie wie von innen heraus durchdringt. Licht ist die Seele der davon durchfluteten sensiblen Blätter, farbiges Licht, das durch die gewählten Techniken Pastell und Aquarell über die Transparenz lasierender Pigmentschichten oder feiner Schraffurschleier oder ganz direkt durch kräftig leuchtende Farbgläser besonders eindringlich auf uns herüber strahlt. Unvermittelt spürt der Betrachter, auch ohne die Künstlerin persönlich zu kennen, dass diese grundehrliche künstlerische Sprache Spiegel ihr ureigenes Wesens ist, das ebenso wie ihre Bilder von diesem inneren Licht dauerhaft getragen erscheint. Und Licht und Farben helfen ihr, sich mit den Dingen zu umgeben, die ihr nahe sind und ihr am Herzen liegen – und uns an ihrer Freude daran und auch an ihrer Nachdenklichkeit darüber teilhaben zu lassen.

 

Recht in gleicher Weise heißen alle Werke der Menschen, die ihren Ursprung von innen nehmen. (Meister Eckhart: Sprüche 10)

 

Da sind die Gesichter der ihr nahen Menschen, mit liebevoller Sorgfalt betrachtet. Für jedes dieser seltenen, behutsam erarbeiteten Bildnisse – gezeichnet oder, wie es diese Ausstellung in einer konzentrierten Auswahl präsentiert, straff und klassisch skulptural ausgeformt – hat sie von Grund auf dem Wesen der Persönlichkeit nachgespürt und für jeden eine ganz eigene Handschrift gefunden, hat die Profile wie streichelnd aus zartesten Linien geformt und doch mit klaren Konturen umrissen – ehrfurchtsvolle Charakterstudien, präzise und verhalten, intellektuell scharf erfasst und seelisch innig erfühlt zugleich. Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit im Kreis gleich fühlender und denkender Menschen strahlen auch Figurengruppen aus, die aus Pastellnebeln von straffen Linien umrissen hervortreten.

 

Die Skulpturen sind in bewusst traditioneller Weise kernbezogen aufgebaut und in den Oberflächen nur sparsam ausmodelliert: Die Nähe zu dem durch das Porträt zu ehrenden Menschen ist Winifred Zielonka wichtiger als alle einen unverwechselbaren künstlerischen Stil prägenden Effekte und Experimente. So wird die Aufmerksamkeit des Betrachters sofort auf den Ausdruck jeder einzelnen Linie der Kontur, die Wirkungen des Wechselspiels von Licht und Schatten, hervorgebracht durch die sanft oder schroff wechselnden Höhen und Tiefen der lebenden Landschaft eines Gesichts gezogen – die Linie wird zum entscheidenden Träger eines von Künstlerhand geschriebenen Psychogramms.

 

So eindrucksvoll wie hier kommt außer in den technologisch motiviert schlicht und klar geführten und geordneten Rhythmik der Bleiverglasungen in den Fensterbildern die sensible Konsequenz der Linie erst wieder in den Serien zur Architektur zum Tragen, die Realität und Vision zur abstrakten Strukturgebilden so verschmelzen, so dass hinter der zunächst nur dekorativ erscheinenden Flächengliederung eine phantastische Traumwelt entsteht. Nahezu symbolhaft werden diese Metamorphosen von Ich-Erfahrung und Welt-Erfahrung von innen nach außen getragen, in zwar geometrisch aufgebauten, doch zugleich frei über die Bildfläche sich entwickelnden, teils die Realität berührenden, teils zu frei-rhythmischen Formgliederungen abstrahierten, transformierten, transzendenten Traumvisionen von Städten, vor allem von ihrer Heimatstadt Erfurt. Über die Flächen hin wandern sich wandelnde und sich einander anverwandelnde Formen von Dächern, Treppen, Türmen und gehen unmerklich ineinander über. Reduziert auf die Konturen der beinah bis zur Formel konzentrierten architektonischen Gestalt, die kristalline Strenge besänftigt durch sanft modulierte Pastelltöne, wuchern die wie orientalisch-ornamentale Bildteppiche anmutenden Blätter scheinbar über die Bildränder hinaus aufeinander zu, um unversehens zu endlos großen archaischen Zeichenfeldern miteinander verwachsen zu wollen und Sensualität mit Spiritualität wie selbstverständlich verschmelzen zu lassen.

 

Die Dreigliederung des Menschen und der Welt in Leib, Seele und Geist, wie sie von Rudolf Steiner propagiert wurde, scheint ganz besonders dem künstlerischen Schaffen innezuwohnen, wenn es sich ernsthaft darum bemüht, das Verhältnis des Menschen, zuallererst das eigene, zur eigene Individualität und zur Welt insgesamt, über die Prozesse der gestalterischen Kreativität zu entdecken, denn bildnerisches Tun erprobt spielerisch das Erschaffen und Verwandeln von Wirklichkeit, eingebettet in den Lebensstrom, in dem Licht und Schatten, Trauer und Freude, Leben und Sterben zusammengehören als zwei Seiten einer Medaille.

 

Das bildnerische Werk von Almut und Winifred Zielonka, in aller Gegensätzlichkeit doch eng miteinander verbunden, macht diese Gedanken sinnlich fassbar.

 

Und alles, was die Seele wirkt, das wirkt auch die einfache Natur in den Kräften. (Meister Eckhart: Traktat Von den Stufen der Seele)

 

Beide Künstlerinnen haben ganz unabhängig voneinander, doch in einem offensichtlichen Seelengleichklang, ihr in sich stimmiges, weil einem harmonisch in sich ruhenden Geist entflossenes und in jedem Zug den Menschen gewidmetes Werk entwickeln können, das zuerst ihnen selbst, aber dann vielleicht auch manchem anderen Erkenntnis, Vertiefung und Verinnerlichung Suchenden hilft, ein entgegen dem äußeren Schein durchaus nicht immer harmonisches Leben zu bewältigen.

 

Meister Lao Tse und Meister Eckart, Brüder im Geiste aus Ost und West, schließen den Kreis und heben schließlich auch dieses Werk auf im Kreislauf unserer vergänglich ewigen Welt, aus der es hervortritt und in die es schließlich als ein Teil von ihr wieder eingeht, vielleicht nicht ohne sie zuvor auf die eine Großmutter und ihre Enkelin verbindende sanfte, doch bestimmte und beharrliche Weise von Almut und Winifred Zielonka ein wenig verändert zu haben.

 

Selbst Himmel und Erde können nichts Dauerndes schaffen – um wieviel weniger der Mensch. (Lao Tse)

Denn alles Geschaffene geht auf in Wandlung. (Eckart: Predigten 100)

 

Erfurt, 11. November 2006 | Dr. Jutta Lindemann