Ute Zyrus

Arnstadt 2009

Wie angenehm – ich darf mich von der Macht der Gewohnheit, die mich in Thüringer Sparkassen immer wieder einmal angreift, auch heute wieder getrost überwältigen lassen! Und das verdanke ich Ute Zyrus!

 

Denn: So wie sie über eine Auswahl ihres Schaffens der letzten Jahre ein Bild ihrer aktuellen Kunst- und Weltsicht mosaikartig zusammenfügt und innerhalb eines konsequenten künstlerischen Konzepts weiterentwickelt, kann ich adäquat in meine virtuellen Töpfe greifen und damit zurück auf meinen Ute-Zyrus-Textfundus, der inzwischen aus mehreren Vernissagen gut gefüllt ist, um ihn natürlich ebenso konsequent mit neuen Gedanken zu aktuell Entstandenem zu ergänzen.

 

Und ob Sie das dann immer auseinanderhalten können, wird sich noch herausstellen – und ist am Ende dann auch gar nicht mehr so wichtig.

 

Betreten wir nun gemeinsam unerschrocken das Wunderland der Alice, doch statt des weißen Kaninchens, der lächelnden Katze und der Kartenkönigin begegnen Paul Cézanne, George Braque, Maurits Cornelis Escher und Frank Stella einander auf ihren Irrwegen durch ein Traumlabyrinth, gewachsen aus Mystik, Malerei und Mathematik.

 

Die schillernde Faszination dieses Wachtraums zwischen Architektur und Abgrund, Kristallwelt und Kulissensprung, Gedankenstrenge und Gefühlsverwirrung … ergreift auf den ersten Blick sofort auch Besitz von uns, vielleicht in der Hoffnung auf den versöhnenden Kompromiss, der sich in unseren Köpfen schon anbahnt.

 

Doch wir spüren es sofort: Die Brücken der Malerei sind trügerisches Spiel, schwankend unter dem ersten festen Schritt über das Niemandsland zwischen den Welten, zwischen Außen und Innen, zwischen der Wirklichkeit diesseits und allen Wünschen, Träumen, Ängsten jenseits der Spiegel, der Wände – außerhalb aller Rahmen.

 

Was wir sehen, zeigt die Doppelbödigkeit alles Wirklichen, die Dualität alles Menschlichen, ein Sein hinter dem Sein, das real genug ist, um das Diesseits nachhaltig zu durchdringen und zu beherrschen. Souveränität ist nur über Akzeptanz zu gewinnen – das Spiel nur zu lernen durch Mitspielen …

 

Nacherlebbar über diese immer wieder gesprengten strengen Gliederungen der Geometrie, über diese immer wieder von warmen, hellen Farben überstrahlten kühlen Töne ist in jedem Fall ein Seelenzustand manchmal verzweifelter, doch immer wieder hoffnungsvoller Suche nach Fluchtwegen, die hin zu Klarheit und Wahrheit führen. Doch durch all die Mauern, Türen, Gitter, Netze, Brüche, Risse, Sprünge – Durchbrüche in andere Räume hinter dem Sichtbaren, Fluchtversuche in andere Welten – durch all die Trübnis, Wirrnis, Ängste, Zweifel dringt behutsam, doch unaufhaltsam das Licht künftiger Möglichkeiten.

 

Es bezieht seine Leuchtkraft aus der Energie unserer Visionen, aus der Stärke unseres Selbstvertrauens und aus dem Mut zu Veränderungen in uns und um uns, wie die Kunst sie uns vorlebt.

 

„Die Wirklichkeit ist das, womit man unter gar keinen

Umständen zufrieden sein … darf … Und sie ist … auf keine

andre Weise zu ändern, als indem … wir zeigen, daß wir

stärker sind als sie“, schreibt Hermann Hesse.

 

Dieser Text – heute leicht gekürzt – entstand vor über 10 Jahren.

 

Hätten Sie’s gewusst? Funktioniert er noch? Ich meine schon …

 

Hatten Sie aber doch leichte Zweifel – umso besser! Denn ohne sich untreu geworden zu sein, ist Ute Zyrus natürlich auch nicht mehr dieselbe wie damals.

 

Was also ist noch zu sehen? Und was steckt dahinter – denn hier geht es immer wieder um die Ebenen hinter dem Gesehenen, das Unausgesprochene, die Untiefen hinter der ästhetisch kultivierten Oberfläche: Der Kontrast von Hell und Dunkel, Kalt und Warm, Linie und Fläche verdeckt Reales und deckt Irreales auf, etwa … wie ein Blitzstrahl der Erleuchtung aus einer fremden Welt eine neue Raum-Zeit-Ebene aufbricht. Vorn und hinten, nah und fern tauschen dann zu unserer Verwirrung ihre Plätze, und wir erkennen: Der Schein trügt, Bildgefüge … brechen ein, brechen auf, brechen auseinander – aber wohin führt der sich dahinter öffnende Weg? Das zu sehen, ist an uns – die Kunst zeigt die Türen, hilft, sie zu öffnen, sie durchschreiten müssen wir selbst.

 

Noch immer unübersehbar wirkt sich dabei die seinerzeit schon exotische und heute leider gar nicht mehr vorstellbare, aber eigentlich echt visionäre Fachkombination Mathematik und Kunst auf das Kunstkonzept der noch immer praktizierenden Lehrerin Ute Zyrus aus. In ihrer Bildwelt verbinden sich weich fließend geformte und geometrisch konstruierte, offene und geschlossene, einander überlagernde und durchdringende, vor allem aber erlebte und geträumte Räume durch Wege hinein und hinaus miteinander zu einem riesigen Weltlabyrinth im eigenen Kopf – zögernd und doch voll der ungehemmten Abenteuerlust eines Parzival oder Simplizissimus zu erwandern mit Geist und allen weit offenen Sinnen – auf der Suche nach dem Gral der ewigen Wahrheit oder dem Paradies des inneren Friedens – oder aber nach erneuten Fragen, die manchmal auch ohne Antworten bleiben und bleiben müssen.

 

Und? Haben Sie diesmal was gemerkt? Denn dies konnte, erweitert durch ein paar neue Gedanken, bereits 1998 und 2001 über die inzwischen nicht nur in der Thüringer Kunstwelt erfolgreich präsente Malerin gesagt werden, die sich über Jahre intensiver Auseinandersetzung mit den einander durchdringenden Gesetzen von Kunst und Wirklichkeit sukzessive ein unverwechselbares Profil erarbeitet hat, charakterisiert durch immer neue, doch zielsicher in den Gesamtkontext ihres Konzepts eingebettete Variationen und Brechungen ihrer Themen und ihrer Handschrift.

 

Und wer ihre Spuren aufmerksam bis in die Gegenwart verfolgt, entdeckt tatsächlich immer wieder neue Indizien, die die Verdächtige als unheilbar wandlungsfähig identifizieren – wenn auch in so behutsamer Weise, dass es schon unseres konzentrierten künstlerischen Spürsinns und der kriminalistischen Ausdauer einer Miss Marple oder eines Hercule Poiret bedarf.

 

So verschmelzen in den letzten Jahren in ihrer nun immer stärker von klaren Liniengefügen getragenen und immer deutlicher grafisch akzentuierten Bildsprache – sinnlich und nachdenklich zugleich – nahezu mühelos Technoides mit Organidem, Gebautes mit Gewachsenem in einer trotz oder vielleicht auch gerade wegen aller Kontraste geradezu märchenhaften Harmonie, die in ihrer gläsernen Transparenz und Transzendenz in unserem Innern (wenn wir uns darauf einlassen) auf dem Wege der synästhetischen Wahrnehmung einen Klangteppich wie eine Bachfuge erklingen lassen könnte, voll ausgeglichener Gelassenheit und Spiritualität. Symbolisch stehen für diese sukzessiven Veränderungen im eigenen Oeuvre wie Schlüsselbilder die Motive der Metamorphosen.

 

Dabei richtet sich der Focus der bildnerischen Aufmerksamkeit von Ute Zyrus seit einiger Zeit von der großzügigen Perspektive architektonischer Welten und Gegenwelten im Spiegel seelischer Strukturen nunmehr auf den Mikro-Makro-Kosmos der Dingwelt in den selbstverständlichen wundersamen Wandlungen zwischen Klarheit und Wirrnis, Härte und Sanftmut, Sinnlichkeit und Sachlichkeit, Erstarrung und Erwachen.

 

Nun formen sich aus wie hingeschrieben fließenden Liniennetzen die kristallinen Kanten differenziert durchgegliederter Körper von Knospen, Kapseln, Kokons in verschiedenen Stadien in der Balance zwischen frei wucherndem Gewächs und geometrisch geformtem Gegenstand, oft wie durch eine Nabelschnur miteinander verbunden. Nachvollziehbar wird, wie Gewachsenes und Geformtes letztlich gleichen Gesetzen folgen.

 

Ganz neu hinzugetreten ist eine Verstärkung femininer Aspekte – nicht nur in der Gestalt der Zeusschwester Demeter als lebenspendender und –erhaltender Muttergöttin, zuständig für die Fruchtbarkeit der Erde im dafür erforderlichen Wechsel der Jahreszeiten. In ihrem Gefolge dringen weibliche, jedoch nicht eindeutig personalisierte Figurationen nachdrücklich, wenn auch nicht ohne Mühe in die kühlen Stein- und Kristallwelten ein, beleben sie mit der kraftvollen Wärme ihrer implizierten Mütterlichkeit, zeigen jedoch zugleich eine recht sperrige, widersprüchliche Fruchtbarkeit als Nebeneinander und oft auch Gegeneinander von Werden und Vergehen.

 

Unter diesem Blickwinkel lassen sich denn auch die nahezu architektonisch kristallin gefügten Samenkapseln neu betrachten, gefüllt mit künftigem Leben, schutzgepanzert und zugleich fragil.

 

Und erlebbar wird ein Sieg der Unsterblichkeit des lebendig Gewachsenen über die Vergänglichkeit des vom Menschen Geschaffenen, wie sie in alten Dschungelstädten immer wieder exemplarisch von der Natur demonstriert wird. Ist das die einzig realistische Vision des ewigen Lebens?

 

Goethes Pantheismus scheint in plausible Nähe gerückt, der Materie und Geist im Spinozaschen Sinne als zwei Seiten einer einheitlichen, ewigen Gott-Natur sah, die Wille und Vernunft mit Güte und Liebe verbindet und die Welt in allen ihren Teilen vom Höchsten bis zum Geringsten einer Ordnung der Schönheit unterwirft, die alles Lebendige verbindet und das göttliche Prinzip noch im Kleinsten auf ewig aufgehoben findet.

 

Gegensätze, die unvereinbar scheinen, werden auch in diesem Sinne symbolträchtig untrennbar miteinander verbunden durch metamorphen Figurationen, ohne sich vordergründig geglätteten Harmonisierungen zu unterwerfen.

 

Inzwischen perfekt beherrschtes Handwerk ermöglicht Ute Zyrus in der von ihr bevorzugten Ölmalerei ebenso wie in den selteneren Farbradierungen einen transluziden seidig-aquarellhaften Farbauftrag, der den schwebenden Charakter der wie von innen leuchtenden, sanft modulierten Flächen den federnden, gleitenden, fließenden Liniengittern adäquat zugesellt – verhalten changierend, irisierend zwischen kühlen und wärmeren Tonwertskalen.

 

So, wie die Linie zunehmend inhaltlich ordnende wie formal gliedernde Aufgaben in einem logisch durchdachten Bildaufbau übernimmt, verbindet das konsequent auf den Orange-Blau-Komplementär- und Temparaturkontrast reduziertes durchgängiges Farbkonzept alle Arbeiten wie eine logische Gedankenfolge miteinander … Diese scheinbare Einengung der gestalterischen Palette scheint nur auf den ersten Blick langweilig oder phantasielos. Tatsächlich hält sie die Elemente des Gesamtkonzepts kompatibel, denn sie konzentriert unsere Wahrnehmungen bei aller Vielfalt der einzelnen Teile auf die Variationsmöglichkeiten der philosophische Grundidee … Und das aktiviert eine gehörige Portion eigener Phantasie, Sensibilität und Lebenserfahrung in jedem, der sich auf den Kriminalfall Kunst einlässt.

 

So bleibt alles immer spannend – bis zum oft überraschend Ende! Manchmal geben Bildtitel dabei Aufschlüsse, manchmal stürzen sie in produktive Verwirrung, legen falsche Fährten, die, überlassen wir uns unseren letztlich untrüglichen Gefühlen, schließlich doch noch eine zwingende Indizienkette bilden.

 

Genau, meine Damen und Herren Detektive – auch einige der letzten Sätze galten zum Teil sogar schon vor Jahren ebenso wie sie noch heute gelten.

 

(… aber welche? Oder ist das letztlich nicht egal?). Wir haben Sie also immer mal wieder ein bisschen an der Nase herumgeführt, wie es von einem guten Krimi ebenso verlangt wird wie von der Kunst. Die Auflösung wird nicht fertig serviert, Sie müssen sich die Bruchstücke schon selbst zusammenfügen … möglicherweise zu unserem eigenen Gral, einem kleinen, aber auch nicht allzu kleinen und vor allem in sich stimmigen Kunst-Kosmos, zusammengefügt in kontemplativer Ruhe – denn Spektakel und Furore um ihre Person ist Ute Zyrus’ Sache nicht: ein gewachsenes, durchaus beachtliches künstlerisches Ouevre von ganz eigener Ausstrahlung nämlich, das uns durch seine stille innere Kraft auf besondere, fast magische Weise – heiter und zugleich nachdenklich – in seinen Bann zieht.

 

Und ich meine, es könnte sich lohnen, dieser Künstlerin und ihren Geschöpfen auch künftig auf der Spur zu bleiben.

 

Erfurt, 11. Oktober 2009 | Dr. Jutta Lindemann