Petra Gremmer & Marion Walther

Malerei & Keramik – Laudatio zur Vernissage in der Galerie Kobaltblau Weimar am 21.11.2003

Himmel, Arm und Zwirn? Oder Wolkenbruch? Nein, Himmel, Hölle und Erde!

Auch nicht – aber Himmels-Luft und Erden-Hölle, Feuers-Brunst und Wasser-Flut!

Das ist es, worum sich alles dreht! Und die Erde ist es, die die drei anderen Elemente in sich aufnimmt und sich durch sie verwandelt, sich ihnen anverwandelt, ohne sich zu verlieren. Und diese Elemente, ihr Mit- und Gegeneinander prägen die Malerei der Petra Gremmer ebenso wie die Keramik der Marion Walther – auf individuell besondere und doch auch schwesterlich verwandte Weise.

 

Der Gruppe der vier Elemente ordnete schon Aristoteles Eigenschaften zu, die möglicherweise sogar ihr spezifisches Temperament begründen: Feuer kennzeichnet er als warm und trocken, Luft warm und feucht, Wasser kalt und feucht und Erde als kalt und trocken – Eigenschaften, die sich durch Färbung, Textur und Faktur von Werkstoffen, durch den Duktus von Oberflächen wie durch die Diktion der Linearität aber auch ganz bewußt ausdrücken lassen, wenn der Mensch sie gestaltend verwendet, da sie in unserer Psyche assoziativ unterschiedliche Empfindungen und Stimmungen hervorrufen.

 

Zum Exempel die Farbe, ganz objektiv naturwissenschaftlich betrachtet: Bereits die natürlichen Farben von Erden und der in ihnen verborgenen Mineralien umfassen durch die darin enthaltenen Metallanteile vor allem von Eisen, aber auch von Kupfer und Mangan, Kobalt und Chrom, Kadmuim und Quecksilber ein Spektrum vom kühlen Blau, Türkis oder Grün über hell leuchtendes Ocker, tief dunkles Umbra, sanft schimmerndes Siena bis zum heiß brennenden Ziegelrot, deren von der Herkunft und Zusammensetzung dieser Erden oder auch ihrer Nutzung hergeleitete und in der Kunst verwendete Bezeichnungen bereits alles verraten über die ursprüngliche, geheimnisvolle, tiefe Beziehung, die gerade Künstler oft zu dem Boden unter ihren Füßen hatten und haben. Und – im Gegensatz zur Charakterisierung durch Aristoteles – dominieren hier die warm wirkenden Töne.

 

Vielleicht ist ja auch schon deshalb kein Zweifel möglich: Die Erde ist eine Frau. Und ich sage das nicht etwa nur deshalb, weil ich selbst eine bin und ein bisschen Feminismus heraushängen lassen will, oder weil es im Deutschen – Zufall oder nicht – d i e Erde heißt. Die große Mutter Erde kannten schon unsere Vorfahren – so wie die Vorfahren vieler Völker auf dieser Erde: als weibliche, mütterliche Gottheiten NINLIL und ISCHTAR in Babylon, ISIS in Ägypten, GAJA, aber an ihrer Seite auch DEMETER, HERA, ARTEMIS, APHRODITHE, KORE in Griechenland, die MAGNA MATER KYBELE im Römischen Reich, IZANAMI in Japan oder NERTHUS bei den Germanen spendet sie Leben, ist sie der Inbegriff von Fruchtbarkeit, die Pflanzen, Tiere und Menschen aus sich gebiert – aber auch Herrscherin der Unterwelt, die ebenso über die Macht verfügt, das Leben wieder in sich zurückzunehmen.

 

Sie ist schon den Urvölkern und den Völkern der Antike heilig wie das Leben selbst – dessen Quelle sie ebenso ist wie die aller Naturerscheinungen, Ur-Anfang der Welt und der Zeit und damit oft auch die älteste Gottheit von allen. Der griechische Mythos schreibt ihr sogar die Zeugung des Himmels zu oder die Kraft, durch ihre Vereinigung mit dem Himmel im Rhythmus von Aussaat und Ernte die ganze Welt hervorzubringen. Sie ist die schöpferischste aller Urkräfte, die Kreativität an sich, die letztlich auch der Seele Unsterblichkeit verleiht.

 

So ist es auch gar nicht erstaunlich, dass viele Kulthandlungen und Rituale davon ausgehen, dass die Verbindung zur Erde neue Kraft verleiht und selbst Tote zu neuem Leben zu erwecken vermag: Kinder wurden und werden oft ganz bewusst auf der Erde geboren, und Sterbende auf die Erde zu betten, soll von jeher den Tod erleichtern, denn auch das Leben würdevoll zu beenden, braucht Kraft.

 

Aus dem Mythos von der Mutter Erde hervorgegangen ist vielleicht auch daher der Mythos der Wolfsfrau, des Archetypus der Wilden Frau, die die uns allen innewohnende instinktive Kraft der Wilden Freiheit verkörpert. Von ihr heißt es:

 

… jede einzelne Frau ist Muttererde, Nährboden, der, ausgehend von der individuellen Frau, sich immer weiter ausbreitet. Eines Tages wird man diesen Mutterboden als einen ungetrennten Kontinent begreifen, Munda de la Madre, als die psychische Welt der Urmutter, die aus unseren Knochen, unseren Taten, unserem bloßen Vorhandensein besteht und allen anderen Welten ebenbürtig ist. Es ist eine Welt des gesunden, ungezähmten Menschenverstands, in der sich das Leben lohnt.

… wenn wir unsere Intuition und unser Urwissen sprechen lassen, kehrt die Wilde Freiheit zu uns zurück. Es gibt keinen anderen Weg. Wenn sich irgend etwas Grundsätzliches verändern soll, dann in uns und durch uns.

… Seid ihr im Begriff, euch freizustrampeln, ein Risiko einzugehen und das künstlich Aufgepfropfte hinter euch zu lassen? Gut. Grabt die tiefstmöglichen Knochen aus, damit die Wolfsfrau weiss, dass ihr es ernst meint. Lasst eure Intuition schnüffeln, haltet die Nasenspitzen in den Wind, um sie am geeigneten Punkt tief in den Boden zu bohren und die Fetzen zur Seite fliegen zu lassen.

Fort, fort von dem, was uns gefangenhält, durch alle Illusionen hindurch und darüber hinaus, ins Freie! Endlich!

 

Das schreibt die mexikanisch-amerikanische Psychologin Clarissa Estés, als ob sie eine Ausstellung wie die von Petra Gremmer und Marion Walther vorausgeahnt hätte.

 

Denn mir scheint, der tiefe Griff in den Boden unter unseren Füßen, hindurch durch Pflaster, Asphalt und Beton, Kabelschächte und Abflusskanäle hinein in die Abgründe des Elementaren, mit dem Schnüffeln der Intuition, um anschließend die Fetzen fliegen zu lassen, ohne zugleich den Blick vom Himmel abzuwenden – das bedurfte bei beiden Beteiligten des Mutes der Wolfsfrau, hat dabei aber auch bei ihnen all jene mythischen Erinnerungen und nicht zuletzt die daraus erwachsenden schöpferischen Kräfte freigesetzt, die der Urmutter Erde entspringen können, wenn wir sie denn überreden können, sie für uns freizugeben – Kräfte, die dazu ermutigen und befähigen, in den Spuren unserer Ahnen der Sehnsucht nach der Wilden Freiheit zu folgen:

 

So entstehen fast zwangsläufig aus der spröden Materie von Sand, Staub und Steinen in der Verbindung mit Wasser, Luft und Feuer archaisch klare Formen und Zeichen, als momentanes Ereignis (oder wie man heute sagt: Event) für einen Augenblick, Wimpernschlag, Atemzug herausgehoben aus dem Fluss der Zeit, der Leben und der Dinge. Und für diesen winzigen, aber auch unwiederbringlichen Moment haben wir die unendliche Zeit der Sinne, um zu sehen, zu hören, zu tasten, zu schmecken, zu riechen und so gerüstet pars pro toto das Universum unter dem Brennglas des künstlerischen Blicks zu erleben.

 

Im Skulpturalen der keramischen Objekte und Gefäße von Marion Walther konfigurieren sich diese im Moment der Kunstschöpfung erstarrten Phasen endloser Metamorphosen alles Lebenden oft als Kreis- und Kugelform – einem jahrtausendealten Symbol umschließender, behütender Mütterlichkeit – Schoß, Knospe, Frucht, Ei – eine Urform, in zuweilen rauher Abwehr nach außen, mit hart gebrannter Haut, doch andererseits nach innen lebensvoll unter dem weich schmelzenden, schützend dichten Fluss der Glasuren und Engoben. Die Kugel umschließt und verkörpert zugleich die gesamte Welt, begehbar wie ein Labyrinth, das jedoch zum Glück dann, wenn es einen Eingang gibt, immer auch einen Ausweg bereithält, vielleicht mit einem die Insassen schützend umschließenden Boot als Fluchtfahrzeug, begleitet von den behütenden Blicken der Wächterinnen turmhoch und souverän über dem Geschehen.

 

In der bildnerischen Sprache von Marion Walther spielt die Linie eine besondere Rolle: Gestreckt, gestrafft, gebrochen, gleitend, fließend, fliehend – Linien ziehen Grenzen zwischen Form und Raum, die sie wie nebenher zugleich charakterisieren; Linien begrenzen als Konturen den Spielraum der Formmodulationen; Linien ritzen und verletzen die Glasurhaut zärtlich und schmerzlich im Erinnern an Jahrtausende tiefe Risse und Furchen in luftgetrockneter, wasserdurchspülter oder feuergebrannter Erde; Linien zeichnen die energischen Profile mythischer Wesenheiten nach, wilder Wächterinnen im Wind oder gravitätischer Göttinnen mit großen Gesäßen; Linien in immer neuen Überlagerungen, verdichtet zu Vernetzungen, zu schicksalhaften Verstrickungen, überziehen mit Haut und Haar mutwillig gereckte Köpfe und Körper als Spuren gelebten Lebens wie nach außen gedrungene kaum vernarbte Wunden der Seele; Linien graben in die heile Welt der klaren, glatten Form tiefe Schrunden: für das sensible Gespür des aufmerksamen Beobachters – aber auch nur für ihn – als Vorboten nahender Veränderung, als erste warnende Anzeichen vor dem Ausbruch des schon vibrierenden Vulkans, vor dem Herausbrechen der unaufhaltsamen Lawine aus der trügerischen Ruhe des Gletschers – Momente des memento mori, die vielleicht nur die Kunst so eindringlich und nachhaltig in den zeitlich begrenzten Focus unserer Betrachtung zu bannen vermag.

 

Gefäß, Gerät, Schmuck, Waffe, Kult, Zeichen und oft alles zugleich – zweckdienliche und ebenso symbolträchtige Formen, wie sie so nur aus der menschlichen Hand hervorgeht und deren schöpfende Bewegung sicht- und spürbar auf Dauer in sich aufbewahrt – Kugel, Kumme, Schale, Stele, Schiff, Schädel, Leib – treten im Turnier der Kontraste gegeneinander an: massig, dicht, geballt, in sich ruhend und versunken gegen grafisch schweifend, kalligraphisch fließend, keck aufgereckt und nicht selten speerspitz oder messerscharf, kraftvoll und kampfbereit.

 

Marion Walthers Schaffen über die letzten Jahre hinweg offenbart eine Persönlichkeit, die sich mit ihren Geschöpfen gern mitten hinein stellt in die Weltbewegung und doch inmitten der Auseinandersetzung immer auch über Einhalt und Einkehr den Gleichklang mit der Welt sucht, wie er in Vollendung jedoch wohl niemals zu finden sein wird. Kunst schlägt ihr immer aufs neue Brücken dorthin, doch das ersehnte Ufer, an dem alle Fragen sich lösen, kann niemals erreicht werden.

 

Formen und Farben, Rhythmen und Texturen dringen unter den Händen der Künstlerin aus ihrem Inneren hervor und achtungheischend mitten hinein in unsere Lebensräume – wo sie uns wirklich und wahrhaftig gerade noch gefehlt haben! Sie verschaffen sich nachdrücklich und nachhaltig den ihnen angemessenen Platz darin und treten in Korrespondenzen, Konkurrenzen, Kongruenzen zueinander und zu uns, sprechen zu uns vom Hiersein und Fortwollen, vom Aufbäumen und Müdewerden, vom Wurzelnschlagen und Segelsetzen im Steigen und Stürzen zwischen Himmel und Erde, stets und unstet getrieben zwischen Feuer und Wasser.

 

Schritt für Schritt hat sie sich aus der Erdbindung heraus auf die Ebenen der anderen Elemente hin bewegt: das Schwebende, das Kühlende, das Flammende begegnet dem Lastenden beim Aufeinandertreffen leuchtend leichter, glänzend glatter Glasuren mit dem schwer lagernden Korpus. Veränderungen zeigen sich folglich vorrangig im Farbkonzept, das, an die natürlichen Nuancen der glasurbildenden Mineralien und Metalle gebunden, doch kraftvoller, kontrastreicher als bisher sich aus der tonigen Erdigkeit der Braunskalen gelöst hat und mit lichten, klaren, kühlen Weiß-, Blau- und Grün-Tönen glänzender Glasuren zum einen und saftig warmem Inkarnat matter Engoben zum anderen mehr und mehr gegen die aus Freibrand-Feuerspuren geborenen schwarzen Schatten des Höllenschlunds angeht. Und im lasierend transluziden Auftrag oder Einrieb der Farben steigert sich ganz nebenbei auch noch die Plastizität der rissigen keramischen Häute. Aktuelle Quellen der Inspiration sind – hier geht der nächste Bogen zur Malerin und ihren ebenfalls nordafrikanischen Einflüssen – das ungebrochen starke indigoblaue Licht über den rostroten Sänden und Felsen Marokkos und die unverfälscht sinnliche Farbenlust dieses Landes.

 

Und auch der Umgang mit der Linearität als der ursprünglichsten Handschrift des Inneren im wahrsten Sinn des Wortes, der direkte, spontane Fingerabdruck der Seele, trennt und verbindet zugleich die künstlerischen Intentionen der Keramikerin und der Malerin.

 

In den konsequent flächenhaften Bildkompositionen von Petra Gremmer umreißen – der Keramik wahlverwandt, wenngleich strenger – schlichte, großzügige Konturen Felswände und Mauern mit spröde gespachtelten, keramisch trocken und rauh anmutenden Steinhäuten, im vulkanischen Brandrot des Sandsteins der antiken jordanischen Felsenstadt Petra oder einer eher symbolischen als realen Klagemauer aus von Menschenhand gebranntem Gestein, zu denen man sich durch Finsternisse mühevoll seinen Weg bahnen muss. Hier ist die Nähe zu den erdig-schrundigen Häuten der Tongeschöpfe am dichtesten.

 

Oder es verschmelzen fast unmerklich und nicht aufgehalten durch trennende Linien am Meeresufer die Elemente Luft, Wasser und Erde, im Ausdruck der gleitenden Bewegungen des fast unwirklich Sphärischen getragen von der fein glänzenden, fließenden Fasertextur des Japanpapiers. Hier – wie in den auf jeweils ein rein duales Farbgegensatzpaar reduzierten abstrakt-konkreten Flächenkompositionen – regulieren glatte, klare Kanten die facettenreiche Begegnung der Elemente Luft und Erde, geprägt vom Umgang mit Feuer. In endlos tief scheinenden Bildräumen werden die verschiedenen Hoheitsgebiete von Luft, Wasser und Erde nur noch durch sanft verfließende, doch zugleich deutlich in spannungsvollen horizontalen Rhythmen gegliederte streifige Helldunkel-Stufungen von matten, satten, wie sandgestrahltes Glas durchscheinend samtigen Blaugrün-Skalen voneinander getrennt, und die Grenzlinien verschmelzen in unmerklichem Übergang mit den schwebend zarten Farbfeldern, bis sie in einer kaum noch erfassbaren nebulösen Zwischenwelt verschwinden.

 

Nach verwandtem Farbkonzept, doch mit disziplinierter Expressivität spüren breitflächige Pinselzüge, die sich spontan und überlegt zugleich energisch über den Bildraum ausbreiten, dem Mikrokosmos des Pflanzenwesens Palme nach, in Nordafrika nach dem Erlebnis des Himmelsblicks aus dem Paradies der Oase heraus auch „Auge des Lichts“ genannt.

 

Wie explizit auch in den Farbfeldbildern, die aus sich immer stärker straffenden Landschaftsstudien heraus abstrahiert wurden, ist ohnehin Licht, das Lebenselixier aller Farben – mit seinen kosmischen Ursprüngen, seinen spirituellen Kräften und doch offensichtlich seinen von der Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen ursächlich abhängigen Wirkungen ein durchgängiges Untersuchungsthema der Malerin – unabhängig, ob als physikalisches Phänomen oder psychologisches Problem.

 

Eine künstlerische Herausforderung ist ihr seit langem auch eine elementare Form von ambivalenter Bedeutung: das Kreuz. Linien formulieren die vielseitige Gerichtetheit dieses Symbols zwischen Anatomie und Religionsgeschichte, das – ausstrahlend nach Ost, West, Nord und Süd, aber auch Mensch und Welt, Himmel und Erde in der Begegnung der Horizontalen mit der Vertikalen verbindend – schon in vorchristlicher Zeit auf Sonne und Leben in der Nachbarschaft von Nacht und Tod verweist. Doch das Kreuz markiert auch den im Volksglauben magisch-kultischen Scheideweg, der klare. konsequente Entscheidungen fordert – ein Kraftort der Begegnung und Besinnung, der Auseinandersetzung und Klärung, der Verbindung und auch der Trennung, des Verweilens und des Aufbruchs. Petra Gremmer fand alte Steinkreuze, die noch heute großen Einfluss auszuüben scheinen und sie zu verhalten und schlicht formulierten, doch ausdrucksstarken, weil licht- und kraftvollen Kompositionen inspirierten, die dem Betrachter Raum lassen für ein reiches assoziatives Erleben dieser lang und tief in uns verankerten Zeichensymbolik.

 

Die dagegen zur prägnanten bildnerischen Formel verknappte Darstellung der Bewegung in eine Richtung im Gegensatz zur in sich ruhenden Ungerichtetheit faßt sie in einen farbig auf Grauwerte reduzierten Zyklus, der eine Nähe zur minimierten und doch bedeutungstiefen Symbolsprache der Aborigines spüren lässt.

 

Licht als Schöpfer und erhaltender Begleiter alles Lebendigen, Luft und Feuer, Wasser und Erde als dessen elementare Ingredenzien – beide Künstlerinnen machen gerade im Zusammenspiel dieser Exposition deutlich, wie durch Konzentration auf Wesentliches, Grundlegendes die Kunst uns spirituell und sinnlich, visuell und haptisch, schmerzlich und lustvoll mit der Nase auf Ursprünge, Wesen und Endlichkeit des Lebens stoßen kann.

 

Das Schicksal alles Gewachsenen und Geschaffenen – sei es Lebewesen oder Mythos, sei es kompliziertes Formgefüge oder klares Bildzeichen – ist letztlich wie das unseres Planeten und des gesamten Weltgefüges eine unausweichliche ständige Wandlung, Verwandlung, Metamorphose in Raum und Zeit, die behutsame oder gewaltsame Veränderung bis zur Zerstörung von bereits Entstandenem, vielleicht mühevoll Erarbeitetem, um dessen Überreste als Rohstoff für die neue Idee, das neue Geschöpf zu verwenden. – Evolution und Revolution als zwei Seiten derselben Medaille. Nur aus dem Tod des Gewesenen und auch schon des heute noch Gegenwärtigen, aus dem Verlust des eben noch Gewonnenen kann in der Zukunft neues Leben neu entstehen. Jede neue Idee muss, um ihre Existenz überhaupt zu rechtfertigen, den vorhergehenden Gedanken überwinden und ihn zugleich anverwandelt in sich aufbewahren. Wer, wenn nicht die Kunst kann das übermitteln, die diese Prozesse modellhaft wie im Spiel erprobt und vorführt, denn wenn Metamorphosen so einfach wären, müssten vielleicht jetzt sofort einigen von uns Flügel wachsen oder auch Hörner oder gar Heiligenscheine oder – und ganz besonders – den neuen wilden Erdgöttinnen und Wolfsfrauen ein neues wildes Fell. Kunst kann helfen, dass wir diese ständigen Verwandlungen aber wenigstens an und in uns selbst erst einmal entdecken, bewußt gestalten und dadurch für andere zumindest zeitweilig sichtbar und nacherlebbar werden lassen – und dass wir allmählich die Fähigkeit in uns ausbilden, mit diesen Wandlungen einschließlich der damit verbundenen, doch oft auch im wahrsten Sinne heilsamen Verletzungen und Verluste zu leben, sie zu bewältigen und uns zunutze zu machen, was auch bedeutet, die richtige Balance zwischen Verlust und Gewinn, die Lebensbalance, zu finden.

 

Vielleicht können uns die 10 allgemeinen Verhaltensregeln für Wölfe und Wolfsfrauen dabei nützlich sein, immer wie Antäus den impulsgebenden und kraftspendenden Boden unter den Füßen zu behalten. (Und: „Am besten fängt man mit Regel Nummer 10 an“, empfiehlt die Autorin Clarissa Estés, „wenn man gerade schwer zu kämpfen hat“):

 

 1. Essen

 2. Ruhen

 3. Spielerisch arbeiten und herumstreunen

 4. Loyal sein

 5. Kinder großziehen

 6. Im Mondlicht tanzen

 7. Ohren haarfein einstimmen

 8. Knochen ausgraben

 9. Lieben und sich lieben lassen

10. Oft und kräftig aufheulen.

 

Erfurt, 19.11.2003 | Dr. Jutta Lindemann