ARTAE-Kunstkalender 2006

Vernissage am 03.11.2005 im Mercure-Hotel Erfurt

Eigentlich hätte ich mich ja auch faul zurücklehnen und ganz schnell mit ein paar Mausklicks eine Kopie meiner Rede vom Vorjahr verfertigen, ein paar Namen ändern und das Ganze heute wieder vorlesen können.

 

Denn abgesehen von denen, die das Ganze im vorigen Jahr schon gehört haben und sich vielleicht sogar auch noch (welche Ehre für mich!) an das eine oder andere daraus dunkel entsinnen, hätte das womöglich gar keiner gemerkt!

 

Das meiste ist nämlich immer noch ziemlich zutreffend: Denn wieder fanden sich sechs Besessene – deutlicher gesprochen, um Irrtümern vorzubeugen: sechs Kunstbesessene – oder noch eindeutiger: sechs vom Malen Besessene aus drei Thüringer Städten unter der Regie von Sabine Aichele und ihrem Team zu einer Kalendergemeinschaft zusammen (vielleicht eine innovative Mutation der Teambildung?).

 

Und wieder verbindet sie vor allem diese Leidenschaft zum Medium Farbe, die Sucht nach dem guten alten Öl- oder Gouachegeruch (Druck-, Acryl- oder andere Odeurs durchmischen diese Duftkomposition der Malersehnsucht natürlich auch), die Lust am Fluss oder Fight der Farben ineinander oder gegeneinander, der Genuss an der kreativen Körperbewegung, die Linien und Flächen auf dem Vakuum von Papieren oder Leinwänden – bevorzugt großformatig – hervorbringt.

 

Ich denke, von dieser unausrottbaren Zunft der Kunstabhängigen gibt es so viele, dass keine Selbsthilfeorganisation – nicht mal mit weltweitem Wirkungsfeld – dieser Sache jemals Herr werden könnte.

 

Und wozu auch? Das, was sie tun, ist ja per se die beste Selbsthilfe überhaupt!

 

Das sagt wohl jeder, wenn er erschöpft, aber glücklich ein unleserliches Kringelchen samt Jahreszahl in die rechte untere Bildecke kritzelt (oder wahlweise an andere Orte) und erstmal einen Schnaps braucht (oder mehrere oder wahlweise andere Getränke)!

 

Das Hochgefühl dieses (oft sehr kurzen und von manchen zu ihrem eigenen Unglück manchmal gar nicht wahrgenommenen, geschweige denn ausgiebig genossenen) Augenblicks ist die beste Therapie gegen Frühjahrsmüdigkeit, Sommerloch, Herbstblues und Winterdepri – kostenlos, allerdings manchmal durchaus teuer bezahlt – Augen-, Rücken- oder Magenschmerzen sind da noch die geringsten Nebenwirkungen. Aber der Adrenalinschub sollte im Normalfall alles andere für einige Zeit kräftig überstrahlen, mit gewissermaßen orgasmusartiger Wucht – wenn nicht, sollte man seine Berufswahl vielleicht doch noch mal überdenken oder sich ein anderes Hobby suchen: Atomphysik oder Kaninchenzüchten beispielsweise!

 

Jedoch bringt dann leider oft schon als retardierendes Moment die mephistophelische Frage den Siegestaumelnden leicht zum Wanken: Und was sagt die Welt?

Patsch! Da hat man den Salat! Oje … Und nun?

Schon kommen, kaum dass man hoffnungsvoll sein Innerstes an Atelier- oder im besseren Falle Galeriewänden nach außen gekehrt hat, diese Kritikaster und Kunstbanausen herangerobbt an den Olymp des Schöpfers und nagen neidisch am Sockel seines Siegesmals! Was tun?

 

Ich rate, da ich zu dieser letztgenannten, allseits beliebten Spezies gehöre, allen Beteiligten auf beiden Seiten der Barriere oder sogar Barrikade zu Großmut und Geduld! Einfach hinsehen auf der einen oder zuhören auf der anderen Seite und sich sein Teil denken. Wir wissen schließlich seit frühen Chorgesängen: Die Gedanken sind frei!

 

Ohnehin heißt die Überschrift bei Vernissagereden ja schließlich auch „Laudatio“, also „Lobrede“, und nicht „Verriss“ oder „Schmährede“! Dafür ist dann außerdem notfalls noch die Presse da.

 

Außerdem lassen sich nach erfolgter Katastrophe und daraus gezogenen Konsequenzen Bilder leichter entsorgen als verrostete Autos oder leergezogene Neubaublocks – bestenfalls sogar an die Wohnzimmerwände erfolgreich vom Galeristen oder dem Kunst-Täter selbst eingewickelter Käufer. Dieserart Entsorgung ist sogar oftmals dem folgenlosen Kritikerlob vorzuziehen!

 

Ansonsten lautet die hinterlistige Frage: Und wo steht bitte Ihr Container, Meister?

Und nachdem ich mir solcherart selbst einen Ablassbrief ausgestellt habe, kann ich getrost zu Werke schreiten.

 

Die Aufgabe ist ja auch nicht ganz ungefährlich: sechs Künstler unterschiedlichster Herkunft und Auffassung, die zunächst nur die zufällige Zusammenkunft auf den Seiten dieses Kalenders zu verbinden zu scheint.

 

(Im übrigen hoffe ich zugunsten der Initiatorinnen und Initiatoren – hier jedoch immerhin fiftyfifty – davon ausgehen zu dürfen, dass die 100-prozentige Männerquote bei der diesjährigen Künstlerauswahl ausschließlich dem heutigen Welttag des Mannes zu schulden ist, wie er laut Medien vor einigen Jahren von Michail Gorbatschow kreiert wurde!)

 

Und siehe da, schaut man genauer hin, kann man geradezu eine Pärchenbildung beobachten: Frank Naumann aus Erfurt und Metulczki aus Jena nähern sich einander über die dramatisch-zeichenhafte Gestik menschlicher Körper, Noor Aldeen Amen Hama, aus dem Irak stammend und jetzt in Erfurt lebend, und Fuchs alias Daniel Täumel aus Weimar treffen in ihrer Liebe zum Ornamentalen aufeinander, und die romantische Begeisterung für Landschaftsmalerei scheint den Jenenser Thomas Werner mit dem Weimarer Peter Stechert zuammenzuführen.

 

Ist doch alles ganz einfach, eigentlich – oder? Ja, schön einfach ist das Spielchen mit den Schubladen schon, aber es funktioniert leider nie. Gerade Künstler bestehen nämlich immer unbedingt auf ihren ganz individuell bunten Schachteln – und recht haben sie! Nicht mal ein Ei gleicht nämlich in Wirklichkeit dem anderen!

 

Das geht schon mit den erlernten und zuweilen auch noch aus pekuniären Gründen ausgeübten Broterwerbs-Professionen los, die sie allerdings auch des öfteren mit anderen Obsessionen zu verknüpfen versuchen: Da ist der Musik machende Ringer und Betriebswirt, der bierbegeisterte Koch, der Elektromaschinenbauer mit abgeschlossenem Mathematikstudium, der Möbeltischler und Fotograf, der wandernde Architekt und last but not least der im besten Sinne konservative Restaurator. Keiner von ihnen begründet seine Ambitionen auf ein künstlerisches Hochschulstudium, keiner fühlt sich folglich auch Schule und Lehrern verpflichtet. Da macht frei, fordert dafür aber immer umso stetigeres und härteres selbstanalytisches Arbeiten am eigenen Anspruch und dem Vermögen, diesem auch gerecht zu werden – und damit ist nicht nur die natürlich unabdingbare handwerkliche Basis gemeint, sondern vor allem die ganz persönliche ideelle Vision und ästhetische Weltsicht wie auch das daraus erwachsende individuelle künstlerische Konzept, das immer aufs neue die gefährliche Hürde selbstzufrieden-provinzieller (und nicht selten gerade deshalb auch ziemlich lukrativer) Kunsttümelei überspringen muss, um unbequeme, weil selten begangene Wege neu zu entdecken und allen Stolpersteinen zum Trotz unbeirrt (und zumeist darüber hinaus auch noch ohne Landkarte und Kompass) zu beschreiten.

 

Es ist natürlich eine Binsenweisheit festzustellen, dass jeder der Protagonisten das auf seine Weise tut, die geprägt ist von Herkunft, Wollen und Können jeder der sechs Persönlichkeiten. Doch auf der Suche nach dem Gemeinsamen, das auch dieses verdienstvolle Kalenderprojekt trägt, wird eben gerade auch das Besondere jedes einzelnen umso stärker hervortreten.

 

Das Verbindende allerdings, so stelle ich seit einiger Zeit mit Erstaunen fest, ist etwas, das gerade den wohl mehr grüblerischen als spontanen, eher behutsam suchenden statt leidenschaftlich unbesonnenen Thüringer Künstlern offenbar immer wieder als Indiz ihrer Provenienz, gewissermaßen als heimische Duftmarke, als Stallgeruch (und das kann immer nur etwas Gutes sein!!!) anhaftet: der unerschöpflich vielfältige, ihr Werk jedoch oft entscheidend dominierende Umgang mit der Linie.

 

Quod est demonstrandum – ich zitiere mich selbst aus der vor einer Woche gehaltenen Laudatio für drei andere Thüringer Künstler in Mühlhausen: Nichts als die freie Linie – egal, ob mit Stift, Feder, Pinsel auf Papier gezogen oder mit vielerlei anderem Werkzeug in vielerlei andere Materialien gegraben, ob … einen … Bildraum im Sturm des energisch breiten Einzelstrichs oder im zierlichen Trippelschritt eines zarten Zeichengewimmels erobernd – ist besser als Psychogramm geeignet, denn die spontan von Hirn und Herz gleichermaßen gesteuerte Handbewegung transformiert am direktesten eine innere Bewegung in eine äußere – vergleichbar mit der Gestik, die vor allem bei großer Erregung unsere Rede begleitet, oder auch mit dem Tanz, den große Freude oder der magische Rhythmus von Musik manchmal völlig unerwartet aus uns hervorbrechen lässt.

Gestreckt, gestrafft, gebrochen, gleitend, fließend, fliehend – Linien zeigen und haben Charakter – den ihres Schöpfers, im Ausdruck genauso kontinuierlich oder wechselvoll wie seine Metamorphosen und Seelensprünge, die sie seismographisch verraten.

Linien sind die ursprünglichste Handschrift des Inneren im wahrsten Sinn des Wortes, sind Fingerabdruck der Seele.

Linien ziehen und überwinden zugleich die Grenzen zwischen Form und Raum, zwischen der kalten Wirklichkeit einer noch leeren Fläche und der frei herausfabulierten wilden Welt der Fantasie, wie sie nur dem Träumen entspringt – im Hellen wie im Dunklen, bei Tag und bei Nacht.

Linien lassen aus der Bildfläche illusorisch den Bildraum entstehen, den wir bis tief in die Unendlichkeit mit unseren Traumgeburten füllen.

Linien begrenzen aber auch als Konturen den Spielraum der entstandenen Formmodulationen – Bildzeichen für reale oder mystisch-mythische Mensch- oder Tierwesen, für pur und assoziativ Strukturelles oder bedeutungsvoll Gegenständliches – die zu sprengen sie zugleich gemeinsam mit uns immer wieder wagen, um modellhaft den Aufstand des Übersichhinauswachsens zu proben.

Linien graben in die heile Welt der unberührten Bildfläche wie auch in die Haut der klaren, glatten Form tiefe Schrunden als unvergängliche Zeitspuren im Rückblick auf Durchlebtes, das sie durch Beschreiben zu bewältigen helfen.

Linien sind das Medium, aus dem heraus sich der Bild- und Formgedanke entwickelt.

Linien als ursprünglichstes Gestaltungsmittel durchziehen vom ersten Moment an, in dem man entdeckt, dass die Marmelade oder Schokolade am Finger auf bevorzugt weißen Tischdecken eine aufsehenerrregende Spur hinterläßt, das Leben eines jeden Menschen.

 

Unsere sechs Delinquenten steuern hier und heute und an allen künftigen Kalenderhängeplätzen vom 01.01.-31.12.2006 ihre Versionen zu den ins Unendliche tendierenden Variationen des Thüringer Linienspiels bei:

 

Daniel „Fuchs“ Täumler aus Weimar vereint die üppig-feingliedrige, kalligraphisch formulierte und in traditioneller asiatischer Kunst ebenso wie in keltischer Mystik wurzelnde aktuelle Tattoo-Ornamentik auf eine im wahrsten Wortsinn so eindringliche Weise mit der kraftvoll-sinnlichen Diktion der Arbeit am und mit dem rauen, doch lebendigen Werkstoff Holz, dass seine mythischen Geschöpfe, Geistwesen von magischer Ausstrahlung, die Distanz zu unseren traditionellen Denkräumen fast spielerisch, jedoch unumkehrbar nachdrücklich zu überwinden scheinen.

 

M. E. Tulczki, in Jena ansässig, lässt sich in kleinen Studien durch das oft kaum beherrschbare dynamische Eigenleben von mit Brachialgewalt aufeinander treffenden Farbströmen nahezu rauschhaft zu freien Kompositionen hinreißen, die assoziativ und expressiv die Urgewalt zwischenmenschlicher Begegnungen widerspiegeln – eine sehr emotionale Arbeitsweise, die es ihm in größeren Arbeiten durch akzentuierend spontan und schroff gesetzte lineare Konturen zu kanalisieren und zu besänftigen, aber auch rational zu fassen gelingt.

 

Dem Erfurter Frank Naumann entwachsen aus dem an und abschwellenden Pinselfluss des erfahrenen Zeichners Generationen formelhafter Menschenwesen, die knapp, aber präzise unsere Befindlichkeiten und Beziehungskisten durch ihre sensibel beobachtete Körpersprache auf den Punkt bringen – und auch der augenzwinkernde Blick in die jüngere Kunstgeschichte – Womackas Liebespaar war zu seiner Zeit etwas, was wir heute gern als Kult bezeichnen – gewinnt dem Thema neue Aspekte zwischen Idylle und Ironie ab.

 

Noor Aldeen Amen Hama, erst vor wenigen Jahren aus dem Irak nach Erfurt emigriert, hat aus seiner langjährigen Tätigkeit als Fotograf mit der Fotograttage eine reizvolle grafisch-malerische Technik entwickelt, die ihm eine faszinierende Mixtur aus der traditionellen Ornamentik seiner Heimat und der modernen europäischen Bildzeichensprache ermöglicht und den zunächst naiv anmutenden, jedoch eigentlich bildnerisch raffinierten Kontrast von linear-grafisch texturierten und mit frei erfundener antik anmutender Bilderschrift überzogenen Flächen bewusst für hintersinnige Botschaften über seine eher global die Gesamtheit der Weltkulturen umfassende Sicht im Spagat zwischen Orient und Okzident benutzt.

 

Peter Stechert aus Weimar, offenbar tief überwältigt von den wechselnden Impressionen jahreszeitlicher Metamorphosen der heimatlicher Landschaft, gelingen faszinierend frische, sehr persönlich gesehene Naturporträts, reduziert zwar auf insgesamt verhalten angelegte, sanft leuchtende Farbklanggefüge, die jedoch im Detail durch Schraffurlagen oder trocken gezogene Pinselschleier fein moduliert werden.

 

Der Jenenser Thomas Werner nähert sich dem Gegenstand seiner Verehrung, dem ihn umgebenden Gewachsenen und Gebauten, voll Ehrfurcht und Demut, tastet sich gleichsam mit den behutsamen, sparsamen Schritten allmählich sich verdichtender winzigster grafischer Bildzeichen in einen von großer Stille erfüllten Bildraum vor und überlässt durch Reduzierung oder gar völligen Verzicht auf das sinnliche Erlebnis der Farbwelt es weitgehend der Phantasie des Betrachters, seine eigenen Empfindungen aus der Erfahrung hinzuzufügen.

 

Gerade in dieser wechselvollen Verwandlung, die dem Schicksal der Monate im Jahres- wie in unserem Lebenslauf gleicht, beruht die Wirkung eines solchen uns durch diesen Zeitabschnitt begleitenden Kompendiums, wenn es über das Medium Kunst uns zu reflektierender und auch aktiv reagierender Betrachtung all des uns derweil Widerfahrenden anzuregen versteht.

 

Und weil ich dies und manches andere an diesem Projekt für wichtig halte, habe ich mich eben doch nicht auf die faule Haut, sondern ins Zeug gelegt – so wie alle am Ergebnis schuldigen Täter – um ein bisschen zum verdienten Erfolg beizutragen. Und auch Worte werden schließlich aus Linien gebildet … Aber die beiden letzten Sätze des Vorjahrs sind es m. E. doch wert, auch heuer noch einmal ein längeres Gerede wie dieses abzuschließen: Kunst ist nicht alles, doch alles ist nichts ohne Kunst! Und so lautet der Tagesbefehl wie gehabt: Danke – Weitermachen!

 

Erfurt, 03.11.05 | Dr. Jutta Lindemann