Manfred Aurich und Hermann Saitz –

Grüße ohne E-Mail und Handy

Rathausgalerie „Etage 2“

 

Die Papierabteilungen der Kaufhäuser präsentieren sie derzeit wieder auf vollen Drehständern in ungezählten Variationen: Rotmützige weißbärtige Männer auf Hörnerschlitten auf dem Weg durch Wolken oder Wälder, wahlweise allein oder umgeben von Engeln und/oder Elchen mit oder ohne Glitzerschnee!

 

Vereinzelt lassen sich aber auch schon überschäumende funkelnde Sektgläser sehen, umkränzt von Kleeblättern und Luftschlangen, dahinter Uhren mit der Zeigerstellung auf 12!

 

Kurz: Die Glückwunschkartenbranche boomt im Vorfeld dieser geballten Ladung von Festtagen, wie sie der Dezember alljährlich bereit hält, damit die Menschheit sich wenigstens einmal im Jahr und das alle Jahre wieder auch auf größte Distanz versöhnlich in die Arme fallen und die Deutsche Post den größten Umsatz des Jahres machen kann!

 

Zunehmend greift allerdings über alle Generationen hinweg auch die kostensparende virtuelle Variante um sich: Emails, geschmückt mit mehr oder weniger stimmungsvollen Fotos (von eigener Hand oder heruntergeladen aus dem Internet) und mit mehr oder weniger lustigen Wackelbildern von den bereits aufgezählten jahreszeitlich charakteristischen Motiven – auch Gifs genannt – rasen in letzter Sekunde durch das WorldWideWeb.

 

Doch es geht auch ganz anders – Künstler und Kunstinteressierte in aller Welt beweisen das schon seit vielen Jahren, und auch in unserer Region wird der Brauch – wenn auch seltener als früher – noch gepflegt: Gezeichnet oder gemalt als Unikate, aber häufiger noch gedruckt als kleine Serie wandern Grüße und Wünsche in Miniaturbildform in die Welt hinaus.Die letzte Ausstellung 2010 in der Rathausgalerie „Etage 2“ – und möglicherweise auch die letzte hier überhaupt, zumindest für eine derzeit noch nicht absehbare Zeit – präsentiert solche Grußkarten von sehr unterschiedlichen Autoren.

 

Manfred Aurich, gelernter Werbemittelhersteller, studierter Kunsterzieher und praktizierender Grafikdesigner wie auch Maler und Grafiker, widmet sich wie viele andere seiner Zunft seit langem nicht nur der Eigenproduktion und dem anschließenden Versand, sondern auch dem Sammeln von selbst empfangenen sogenannten Neujahrskarten – einem Miniaturkunstformat der besonderen Art, das inzwischen fast zur Rarität geworden ist. „Persönliches muss nicht druckreif sein, sondern natürlich, echt und authentisch“, meint der geborenen Chemnitzer, doch seit vielen Jahren in Erfurt Ansässige. Eine ganz eigene Sicht auf das vergangene oder häufiger noch auf das kommende Jahr, auf kurze Wort- und Bildformeln komprimiert, die zugleich die individuelle künstlerische Sprache des Absenders auf den Punkt bringen, sind typisch für diese kleinen grafischen Kostbarkeiten.

 

Sie sind meist nur einem ausgewählten kunstsinnigen oder dem Schöpfer des Werkes persönlich besonders zugetanen Adressatenkreis zugedacht, der sie aus verschiedenen Gründen zu schätzen weiß und daher nicht nur mit Sicherheit vor dem Papierkorb bewahrt, sondern manchmal sogar zu sinnstiftenden Begleitern der kommenden Monate macht, denn hier werden Gedanken und Gefühle, meist in Gestalt von Hoffnungen und Befürchtungen, nicht selten aber auch von visionären Mahnungen, die gelebten Erfahrungen entspringen, direkt von Mensch zu Mensch, von Herz zu Herz transportiert.

 

Die Motive reichen von harmonischen oder spannungsreichen Landschaften und Stilleben über mythologische Metaphern bis hin zur handfesten politischen Satire, die Kunstauffassungen vom naturnahen Realismus bis zur expressiven Abstraktion, die Techniken umfassen alle Bereiche der originalen Druckgrafik oder auch – oft dann in kleinerer Auflage oder als Unikate – der Zeichnung, Fotografie oder selten dem Aquarell und der Collage, daneben aber auch mittels moderner Reproduktionstechniken vervielfältigte Arbeiten aus eigener Hand. Über Jahre entstehen gelegentlich sogar inhaltlich oder formal verknüpfte Serien; Manfred Aurich stellt hier beispielsweise eine Reihe exzellent in der Manier klassischer Federzeichnung aus malerischen Schraffurflächen gebaute Studien der Erfurter Altstadt vor – bestimmt in der Komposition, stimmungsvoll im Detail.

 

Auf Entdeckungsreise quer durch die Welt der Thüringer Künstlerschaft und Kulturprominenz geht man bei der Betrachtung der ausgewählten Blätter aus seiner hochkarätig bestückten Sammlung – und lernt vielleicht ganz nebenbei bisher verborgene Seiten bekannter Persönlichkeiten kennen.

 

Hermann Saitz, Stadtplaner und Reisender aus Leidenschaft, erarbeitete sich, wenn auch bis heute sichtbar geprägt vom typischen Blick und Strich eines beruflich mit Baulichem Befassten, doch eine eigene bildnerisch-poetische Weltsicht über Jahrzehnte – nach ersten, heute von ihm kritisch gesehenen Versuchen mit Linolschnitten – schließlich in gezeichneten und handgeschriebenen Reisetagebüchern, aus denen auch immer wieder Weihnachts- und Neujahrsgrüße für seine Familie exzerpiert wurden.

 

Er sieht Zeichnen nunmehr als Selbstvergewisserung und stellt fest:

 

„Ich habe gelernt, mit anderen Augen durch die Welt zu gehen und mich mit dem zu Schauenden auseinanderzusetzen, gewissermaßen einen Dialog zu eröffnen, lautlos. Zeichnen ist lautloses Sprechen.“

 

Er versteht sich dabei weniger als Künstler, denn als immer noch Suchender, weil er künstlerische Meisterschaft bei anderen hoch achtet.

 

Naturgemäß dominieren architektonische Wahrzeichen der bereisten Städte zunächst in Ost-, später auch in Westeuropa, hier bevorzugt in Italien, deren in Stein geformte Kulturseele ihn bis heute berührt, doch daneben haben es – erstaunlich bei seiner beruflichen Provenienz – vor allem Bäume angetan, nicht zuletzt in ihrer Symbolhaftigkeit für das menschliche Werden und Vergehen.

 

Beider – Aurichs wie Saitz‘ – Sichtweisen treffen sich trotz aller Unterschiedlichkeit ihrer bildnerischen Wurzeln in einer entschiedenen Konstruktivität der Handschrift, die unverkennbar von der Linie und damit von dem letztlich unerreichbaren Ziel beherrscht wird, den Dingen auf den Grund zu gehen, die Fäden des Lebensspiels fassen und halten zu können – ihre Wege dahin jedoch unterscheiden sich durchaus, und das ist legitim.

 

Persönlich gestaltete Grüße zum Jahreswechsel, emotional, individuell, traditionell und zugleich unkonventionell, sollten wieder Schule machen! Jeder, der sich in dieser Kunst geübt hat, kennt das kreative Chaos im Kopf und auf diversen Zetteln, bis die entscheidende Idee hervorbricht, kennt die Vorfreude schon beim aufreibenden nächtliche Arbeiten am Blatt auf das (erhoffte) Leuchten im Auge des Empfängers, auf sein nachdenkliches oder amüsiertes Schmunzeln, das einen dann auch selbst ereilt, wenn man die (ebenso erhoffte) Antwort in Händen hält.

 

Absolute Krönung aber ist die überraschende Entdeckung eines eigenen Kärtchens an einer Büropinn- oder Wohnzimmerwand – vielleicht sogar in Nachbarschaft mit Kunstwerken anerkannter Koryphäen.

 

Das ist wie ein Stern auf dem Walk of Fame – der Ritterschlag der Kleingrafik!

 

(Aber er kennt eventuell auch das quälend schlechte Gewissen, wenn einem der kartengefüllte Briefkasten entgegenquillt, während man selbst diesmal – aus welchen Gründen auch immer, ausnahmsweise keinen Strich zu Papier gebracht hat … o mea culpa, mea maxima culpa!)

 

Darum auf jetzt, wer bisher noch untätig war, noch ist Zeit! Bis – sagen wir mal – März darf man noch Neujahrskarten tauschen, ohne sich lächerlich zu machen, dann allerdings sollte man schon mit den Ideen für das nächste Jahr schwanger gehen – auch wenn dann schließlich etwas ganz anderes herauskommt als erwartet … Und wer es noch nie probiert hat: Es gibt für alles ein erstes Mal! Denn nicht die Kunstfertigkeit ist entscheidend, sondern die ehrliche Leidenschaft und Liebe zum Leben und allen Menschen, die es derzeit mit einem teilen! Das sollte doch wenigstens einmal im Jahr gesagt werden dürfen!

 

Früher stand häufig ein geheimnisvolles Kürzel auf Neujahrskarten, das man leider kaum noch findet, obwohl es eigentlich der Schlüssel zur Magie dieser künstlerischen Kleinode ist: P.F. – und dessen Auflösung soll mit Ihnen ins neue Jahr gehen und vielleicht auch Ihre Kreativität (und die derjenigen, die über die Weiterführung dieser kleinen Galerie im Rathaus zu befinden haben) begleiten und beflügeln: Pour felicité – Für das Glück!

 

Halle, im Dezember 2010 | Dr. Jutta Lindemann