Adam Ries I02 / II03

Laudatio zur Vernissage der Gruppe Chiffre 4 in Weimar am 08.10.2003

Üblicherweise sind Jubliäen zeitlich begrenzt; Jubiläumsjahre enden spätestens am 31.12. desselben, und der, die, das Bejubelte versinkt mit dem ersten Glockenschlag des neuen Jahres im Abgrund des Vergessens – zugunsten des nun neu zu Bejubelnden.

 

Aber manchmal sind solcherart Bejubelte einfach nicht totzukriegen, auch wenn sie eigentlich schon ein paar hundert Jahre zumindest physisch tot sind. So geschehen mit dem alten Zahlenzauberer Adam Ries, im Vorjahr kulturelles Jahresthema in Erfurt, einem seiner Tatorte. Sein Geist und die Magie der von ihm errichteten und beherrschten Welten wirken , ob wir es wollen oder nicht, heute mehr denn je auf unseren Alltag ein – mit wachsender Intensität jedoch brechen sie auch über die Sprache der zeitgenössischen Kunst herein.

 

Das Erfurter Ehrenjahr des Rechenmeisters, dessen Bücher daselbst im alten Universitätsviertel gedruckt wurden, hat so manchen darauf gestoßen, dass wir gar nicht mehr darum herum kommen, uns mit Wesen und Unwesen, Geist und Ungeist der Zahlenwelt und ihrer Rolle in unserem Leben auseinanderzusetzen, soll sie uns nicht bald vollends beherrschen anstatt wir sie, und vielleicht ist ja wirklich die Kunst einer der wichtigsten Wege, sozusagen ein Königsweg, um der Allmacht der Zahlen in unserem Alltag beizukommen, denn mit Kreativität und Fantasie kriegt man noch immer wie seit Jahrtausenden so manches Problem in den Griff, das mit Rationalität allein nicht zu bewältigen ist.

 

Ehrlich gesagt: Ich habe mit Zahlen eigentlich noch nie so richtig was am Hut gehabt, denn meistens haben sie mir eher Stress als Spaß gebracht: die Zahlen im Terminkalender und auf der Uhr, die mich durch den Tag jagen – und am allerbrutalsten dann, wenn der Zeiger auf dem Wecker die 6 erreicht (wenn auch sonst gegen 6 nix einzuwenden ist), die mit unangenehmer Regelmäßigkeit auf meinem Konto auftauchenden roten Zahlen, die Zahlen auf dem Außenthermometer, wenn sie in der Nähe der 30 stehen, egal ob über oder unter 0, vergessene Geburtstage oder verlegte Telefonnummern, unbezahlte Rechnungen oder unabgegebene Lottoscheine, falsche Post- oder Bankleitzahlen, Prozente oder Zinsen, Mehrwert- oder Hundesteuer, Rabatt oder Kredit, Dax oder Nemax und wie sie alle heißen – Zahlen, Zahlen, Zahlen begleiten jeden Augenblick des Lebens, ordnen es, steuern es – wohin auch immer, und sei es in den Abgrund wie die berüchtigten roten – schneiden es zur besseren Verdauung in Scheibchen, machen es scheinbar überschaubarer und verwirrender zugleich, weisen einem jeden (apropos Kontostand) seinen Platz in der Welt zu: Palast oder Platte, Rolls Royce oder Rad, Malossolkaviar oder MacDonalds.

 

Ginge es nicht gerechter in der Welt zu, wenn der Mensch keine Zahlen kennen würde?

Und da soll es Spaß machen, sich mit Zahlen zu beschäftigen?

Kann man denn tatsächlich Schönes an und in ihnen finden?

Manche Künstler leiden allerdings lustvoll lebenslang unter der Diktatur des Berechenbaren, etwa die in Erfurt stadt- und darüber hinaus auch nicht unbekannten Konkreten.

Aber man kann auch tapfer aufbegehren – zumal mit Rückendeckung durch das Kollektiv – und provokativ wie einen Fehdehandschuh die These in den Raum schleudern, das Leben sei nicht zu fassen nach Adam Ries, weil im letzten Grund unberechenbar.

Auf in den Kampf! Alle für eine und eine für alle (waren das nicht auch vier?)!

Quod est demonstrandum.

Oder man kann einfach alles als großen Joke begreifen, kann spielen, jonglieren, über das wilde, wirre Zahlenmeer auf einem Seil hinweg tanzen, das bunt zusammengezwirbelt ist aus der Lust an Farben und Formen, der Leidenschaft zu Stift und Pinsel, aus dem Spaß am Verwandeln und Verwirren (vor allem andere, aber manchmal auch sich selbst), an magischen Maskeraden und experimentellen Eskapaden.

 

Die vier Frauen der Gruppe Chiffre 4 (die hießen übrigens auch schon vor dem Riesjahr so – nahezu prophetisch!) – wie alle Frauen alltäglich in Zahlenlabyrinthen gefangen und zugleich vom Unberechenbaren des Lebens besonders fasziniert und also hin und her gerissen zwischen der sicherheitheischenden Sehnsucht nach Kontrollgewalt durch Messbarkeit und der unbändigen Lust auf grenzenlose Freiheit – stürzten sich, jede auf ihre Art und doch gewissermaßen in einer Waffenschwesternschaft in die ergebnisoffene Untersuchung solcher Fragen wie:

Was war eher da – die Zahl oder das Leben?

Oder: Gibt es ein Leben außerhalb der Zahl?

Und so bekommt der Satz „Ich möchte ZAHLEN!“ eine nie geahnte neue Bedeutung!

Die selbst gewählte Versuchsanordnung grenzte das Kampffeld ein auf Zeichen, Zeiten und -nomen est omen – Chiffren in den vielfältigen Sprachen mancherlei Künste, etwa auch der Musik, ein – und machte es gerade damit schier grenzenlos.

Im ersten Jahresprojekt 2002 wagte die Quadriga die Schritte noch nicht allzu weit entfernt vom Ausgangspunkt zu setzen und umkreiste waffenschwingend Zahlen und Zählen im engeren Sinne; nun nach Jahresfrist jedoch ist so mancher dicke Brocken verdaut, und man nähert sich mit neuem Mut den Grenzenübergängen, um todesmutig den Sprung vom Äußeren, Äußerlichen, vom ästhetischen Formspiel ins Innere, in die Tiefen neuer Bedeutungsebenen zu wagen.

 

Regina Aschenbach, die zunächst in schablonierten seriellen Strategie-Puzzle-Bildern der normierten modernen Musterwelt auf die Spur zu kommen und Individualität gegen Austauschbarkeit aufzuwiegen versuchte oder die Zahl als scheinbar rein dekoratives Formelement in ausbalancierten abstrakten Kompositionen benutzte, deren Hintersinn sich erst auf den zweiten Blick erschließt, entdeckt in einer erneuten Versuchsreihe nunmehr die optimale Form im Oval, der Null, dem Ei: funktional wie auch ästhetisch, konstruiert nach den Proportionen des Goldenen Schnitts und perfekt in seiner Zweckdienlichkeit. Doch sie entdeckt darüber hinaus für sich im Oval eine ungewohnte malerische Herausforderung. Der Reichtum liegt in der Modulation der Details, den differenzierten Texturen der Oberflächen, den unendlichen Farbvariationen, die der ewig vertrauten Form zu neuem Eigenleben verhelfen.

 

Wie auch bei Sigrid Wiegand in aller Ernsthaftigkeit jeder guten Satire vorgeführt: Das Ei als Prototyp des Beginnens, des Aufbruchs im engen wie im weiten Wortsinn sprengt durch seine lebendige Individualität die Schale des berechenbar Maßvollen, die kalte Stereotypie streng mathematisch definierter Welten – wie beispielsweise der Jazz einst die Starre der klassischen Kompositionslehren sprengte, indem er durch die freie Improvisation das Wesen des Interpreten, seine momentane Situation, seine spontane Emotionalität in das feste Gefüge der musikalischen Ordnungsgesetze einbringt, es mit neuen Strukturen überlagert und damit deren gleichförmig begrenzende, zu eng gewordene Hülle durchbricht.

 

Die Motivation für die gleichnamige Bildgruppe verknüpft sich also konsequent mit den Überlegungen zum Ei und seinem Ur-Sprung im engsten Wortsinn – dem Ausgangspunkt aller Aus- und Aufbrüche.

Und es werden Frauen, schwarze Frauen, ins Spiel gebracht, deren Spontaneität und Kreativität als Interpretinnen gerade dem Jazz unverwechselbare Impulse verliehen haben – wilde, leidenschaftliche Frauen, frei und maßlos im Leben wie in der Kunst, von Bessie Smith bis Nina Simone.

Würden solche Frauen auf die Suche gehen wollen nach einer Formel, die unsere Welt im Innersten zusammenhält?

Oder leben sie gerade darum in und für Kunst, weil sie mit ihr der Unendlichkeit zwar ein Stück näher kommen, aber doch zugleich akzeptieren können, dass sie sie niemals erreichen und erkennen werden und so doch immer noch ein wenig Geheimnis für ihre Wünsche, Träume und Sehnsüchte übrig bleibt, das die Phantasie in Bewegung zu setzen vermag.

Und welch ein Glück: Im wirklichen Leben gleicht auch kein Ei dem anderen!

Gedanken dieser Art lassen sich wirkungsvoll durch bildnerische Techniken transportieren, die selbst mit Regeln und Gesetzen spielen wie die Druck- und Mischtechniken mittels alternierender opaker und transluzider Farbschichten, die scheinbar gültige Formen und gesicherte Kompositionen immer wieder durch Überlagerungen und Durchbrechen der Bildebenen im Wechsel zwischen innen und außen, offen und geschlossen, statisch und dynamisch in Frage stellen und damit eine oszillierende Ambivalenz erzeugen – eben unberechenbar im Prozess der Bildfindung wie in der Rezeption durch den irritierten Betrachter.

 

Diese Grundidee zieht sich leitmotivisch durch das Konzept der gesamten Ausstellung.

Und siehe – „es geht auf“, und damit auch die Rechnung, die vielleicht erst noch ohne den RIESigen Wirt gemacht wurde, aber unversehens sitzt er freiwillig mit am „Runden Tisch“, der im Idealfall alle Kontrahenten zwangsläufig einen, die Positionen ausgleichen, das Positive und das Negative wie das Eine und das Vielfache gegeneinander aufrechnen, alle Operationen gegenseitig aufheben und gemeinsam eingehen lassen sollte in den Kreis, das Ei, die Null, das Nichts – wie weiland die Kampfgelüste am gleichnamigen Tisch des sagenhaften weisen Artus oder an denen jüngeren Gepräges, die vergessen zu sein scheinen oder aber inzwischen unzählige ziemlich spitze und scharfe Ecken mit allerlei Winkelzügen bekommen haben und unerreichbar hochbeinig gestelzt daherkommen, mit unsichtbaren Stühlen drumherum, zwischen die sich nicht zu setzen fast schon eine eigene Kunst geworden zu sein scheint. Es lebe die Quadratur des Kreises!

 

Ina Hermann dagegen hatte zuerst die Zahlen unterm Trommelwirbel von Pinsel und Holzschnittmesser in der Manege der Grafik und Malerei einer heiteren Dressur unterworfen – im Zauberkunststück der „Unwissenschaftlichen Divisionsmanöver“ etwa oder in der akrobatischen Jonglage eines Zahlenfressers. Kontrastierend in Sinn und Form setzte sie die seriös durchgearbeitete Linolschnittreihe „Null ist die Mitte“ daneben – auf den ersten Blick eine solide Harmoniestudie, deren würdevoll-gravitätischen Auftritt erst der zweite Blick auf die kontrapunktischen Textzeilen ins Stolpern bringt.

 

Vergleichbar in seiner spielerischen Ernsthaftigkeit erscheint das Buchobjekt „Dunkelziffer, Grauzone, weißer Fleck“, das zunächst die Zahl in ihrer formalen Vielfalt als rein ästhetisch-sinnlich vielseitiges und vieldeutiges Zeichenelement benutzt, um die schicksalhafte Verstrickung von Raum und Zeit an den Verwandlungen beim zeitlich und räumlich determinierten Durchblättern des Buches zu demonstrieren – und dabei wie versehentlich den Zahlen über neue Bildwerte neue Bedeutungsinhalte entlockt, unberechenbar wie die zufälligen Schnittpunkte der Raum- und der Zeitebenen, aus denen sich die Geschehnisse auf den Holzschnitten zwangsläufig und unaufhaltsam entwickeln. Oder gibt es gar keine Zufälle, und irgend jemand hat das alles haarklein vorausberechnet? Wer weiß.

 

Das Unzählig-ungezählt-unzählbare fasziniert Bettina Neumann auf ganz andere, verletzend-verletzt-verletzliche Weise.

Nach dem satirischen Spektakel mit einer fiktiven Topf-Kopfbedeckung für Adam Ries und einem sensiblen Spiel mit der formalen Verwandlung von Zahlenkombinationen in Ornamente auf Bildteppichen, wie eingesponnen in Konturenkokons oder konsequent reduziert auf amöbisch anmutende Silhouetten, die von der Kulturen und Zeiten übergreifenden Ambivalenz jeglicher Zeichensprache getragen wird, begibt sie sich nunmehr auf den Weg nach innen, um die Welt über die Erkenntnis des eigenen Ich zwischen Messbarkeit und Maßlosigkeit, Wissenschaftshörigkeit und Schicksalsgläubigkeit, Rationalismus und emotionalem Fatalismus zu ergründen, bewältigt sie innere Konflikte über in der Kunst ausgelebte Autoaggressivität.

 

Die Stachelhaut, geschöpft aus den langen Fasern des Papiermaulbeerbaums, streckt zwar bedrohlich abwehrend über dreitausend Nadeln gegen uns aus, und wohl nur Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eine fehlet an der ganzen großen Zahl.

Und doch – wenn auch jede einzelne der Nadeln für sich eine Verletzung bewirken kann, sollte man sich ihr direkt und geradezu nähern (spürbar allerdings auch im Innern der Haut für jeden oder eher jede, die sich dahinter zu verstecken versucht) – deren Gesamtheit jedoch schmiegt sich unerwartet sanft gleich einem silbernen Fell in eine nicht angreifende, sondern entgegen allen Berechnungen zärtlich streichelnde Hand.

Typisch weiblich – oder sogar typisch menschlich?

Vielleicht ist Gewalt, scheinbar unbeherrschbar und unberechenbar, leichter aus der Welt zu schaffen, als wir alle glauben. Und vielleicht gibt es schon die Idee eines Weges dahin: zum Beispiel, nur von Äußerlichkeit bestimmte Ziele in Frage zu stellen.

Scheinbar ziellos dahintreiben.

Ist das Treiben das Ziel?

Treiben klärt das Ziel.

Die Zahl der kleinen Boote ist wohl überschaubar, nicht berechenbar jedoch ist ihr Weg durch den Strom, dessen Kräfte allen Regulierungsversuchen Trotz bieten können, wie wir vor noch nicht allzulanger Zeit beispielhaft inmitten unserer von Wissenschaft und Technik doch so meisterlich beherrschten Welt vorgeführt bekamen.

 

Diesen maßlosen, niemals endgültig zu bändigenden Kräften sich hinzugeben, sie in ihrer Eigenheit geschickt und sensibel zu nutzen, statt sie nach menschlichen Maßstäben beherrschen zu wollen, setzt die Bereitschaft voraus, die rationale, zielorientierte Kontrolle abzugeben an einen Lebensfluss, der vielleicht andere Ziele für uns bereithält, als unser Kopf festzuschreiben versucht – und eventuell ist ja der Weg selbst schon das Ziel (auch das eine alte Weisheit!) und das Entdecken der Schönheiten unwiederbringlich vorübergleitender Uferlandschaften und die Lust daran, der Genuss am Erfahren des Lebens mit allen Höhen und Tiefen, den der starre Blick auf einen Zielpunkt in der Ferne verhindert.

Pantha rei.

Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss.

Doch die Spur aller Flüsse lässt sich bis an ihren Ursprung zurückführen, und die Suche nach den Ursprüngen der Welt, nach ihrer Urformel ist der rote Faden, der alle Arbeiten dieser Ausstellung verbindet.

Ist sie ein Zahlenwerk? Oder manifestiert sie sich in einer Ur-Form?

 

Sigrid Wiegand hatte der Urform Ei von Anfang an eine führende Rolle in ihrem Ries gewidmeten Ouevre eingeräumt.

Nachdem sie zuerst – mal derb sarkastisch, mal mit feinem grafischem Witz – das Bruchrechnen ebenso wie das Wurzelziehen beim Wort genommen und durch hemmungslose „Zahlenspiele“ auf der „Festplatte“ schließlich den unausweichlichen „Börsensturz“ herbeigeführt hatte, lässt sie nun in naturwidrigem eigenwilligem Schöpfungsakt Silberdraht-Zahlengespinste aus rettungslos zerbrochenen Eiern wachsen und diese danach ausweglos einspinnen – bizarr und fragil, eigenwillig und kraftvoll – frisch, fröhlich, frei, aber alles andere als fromm.

Und da diese Bewegungen von innen nach außen oder von außen nach innen in der Erstarrung des zu Kunst gefrorenen Augenblicks verharren, bleibt wieder einmal die große Frage ungeklärt:

Was war eher da – das Ei oder die Zahl?

 

Vielleicht gibt Aufschluss, dass von der Kabbala bis zu Grimms Märchen Mystik und Mythik seit jeher von der Magie der Zahlen als Urprinzipien des Geistes getragen sind, wobei besonders die Sieben vom Glücksbringer bis zum bösen Fluch alle zauberischen Potenzen in sich birgt: sieben Zwerge (Tugenden) und sieben Berge (Hindernisse). Die Sieben findet sich in allen Bereichen des Lebens: die Farben des Regenbogens, die Wochentage, die Schalen der Zwiebel, die Töne der Oktave – und die sieben Tage, an denen Gott die Welt erschuf, aber auch die sieben fetten und die sieben mageren Jahre, die sieben Siegel und die sieben Todsünden. Wesentliche Entwicklungsimpulse erfährt der Mensch alle sieben Jahre. „Pack deine sieben Sachen und geh!“ heißt: Nimm alles Wesentliche mit dir auf deinen Weg! Die Sieben – das Dreieck auf dem Viereck wie ein Haus – ist in der Kabbala die Zahl der Grenzüberschreitung und der Transzendenz, der Wandlung und Entwicklung, der Befreiung und Erlösung am siebenten Tag, dem Sonntag. Sieben ist die Zahl des kosmischen Menschen, der über seine irdische Natur, die Herrschaft der fünf Sinne und der sinnlichen Lust (der Sechs oder des Sex?) hinausgewachsen ist, zwar mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen (das lastende Quadrat) und zugleich mit dem Kopf über Raum und Zeit hinaus ragend (das aufstrebende Dreieck).

 

Die typografischen Spiele mit Märchentexten zwischen sieben Raben und sieben Schwaben setzen ihre Untersuchung des Phänomens mystisch-magischer Kräfte der Zahlen mit leichtem Augenzwinkern hier an und entdecken die Zahl als menschliches respektive ur-animalisches Wesen.

So wie es offensichtlich tatsächlich ein Leben außerhalb der Zahl gibt, gibt es also erst recht eines in ihrem Inneren, allerdings von einer Tiefe, die sich dem menschlichen Verständnis möglicherweise niemals zur Gänze erschließen wird.!

Hinter den Zahlen, die ihr nennt, ahnen wir Kräfte. Was ist die Vier? Was ist die Sieben? – Schaut ihr nicht mehr auf die Zahlen, so werdet ihr die Kräfte erkennen, denn hinter allem wohnt die Kraft. Jede Form ist ein Tor zu unendlichen Kräften.

(Aus dem „Buch der Engel – nach H. E. Benedikt)

 

Der Kreis (oder das Oval) schließt sich, Anfang und Ende, Alpha und Omega verschmelzen miteinander, der Lebenszirkel rotiert.

Bleibt das Mysterium uns verborgen?

Oder drehen wir etwa gerade nur eine Nullrunde ums Karrée und entdecken dabei so ganz nebenbei die Quadratur des Kreises?

„Die Zahl ist der Vater der Götter und der Menschen“, sagt Pythagoras.

Doch nicht nur Mathematiker und andere Zahlenkünstler melden sich zu Wort, sonder auch andere Geistesriesen umkreisen das Wesen der Zahl:

Willst du den Kern haben, so musst du die Schale zerbrechen.

… so müssen die Gleichnisse alle zerbrechen, und je weiter man hineintritt, umso näher ist man dem Wesen.

(Predigten 102: Von der Natur)

 

In diesem Leben sind alle Dinge eins und alle Dinge gemeinsam, alle Dinge alles in allem und allem geeinigt.

(Predigt: Von stetiger Freude)

 

Einheit eint alle Mannigfaltigkeit, aber Mannigfaltigkeit eint nicht Einheit.

(Fragmente 25)

 

Je vollkommener und einfacher ein Ding im Sein ist, desto mannigfaltiger ist es hinsichtlich seiner Gesichtspunkte und Kräfte.

(Lateinische Werke I, 196, 4f)

 

Denn alles Geschaffene geht auf in Wandlung.

(Predigten 100)

 

Das schrieb der diesjährig in Erfurt geehrte Mystiker Meister Eckhart vor rund 700 Jahren. Ist das nicht RIESig?

 

Könnte es sein, dass die Weltformel längst gefunden wurde, und wir haben es nur noch nicht gemerkt, weil wir sie bisher nicht verstanden haben?

 

Erfurt, 01.10.2003  |  Dr. Jutta Lindemann