Monika Besser

Zwischen Tarot & Mandala – Aller Geheimnisse Pforte

Kann sich öffnen und schließen das Himmelstor ohne das Weibliche?

Ein Werk wie das vorliegende beantwortet wortlos diese Frage des weisen alten chinesischen Philosophen Lao-Tse aus dem Tao Te King, einem Kompendium fernöstlicher Lebensweisheit, geschrieben im 3., 4. oder 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung.

 

Monika Besser gehört schon lange zu den Besessenen, deren wichtigste Lebensleidenschaft – Fäden, Flächen, Farben – ihre Gefühle und Gedanken ebenso in ständiger Bewegung hält wie ihre sensiblen Hände – und das seit nunmehr über dreißig Jahren.

 

Es ist schwer zu entscheiden, ob das seelische Erlebnis als Brennglas täglicher Lebenserfahrung bestimmt, daß ihre Wahl auf stumpf-schweren Samt, sanft schimmernde Seide oder weiche, warme Wolle, golden glänzendes Gelb, gläsern glitzerndes Grün oder lasziv leuchtendes Lila, auch schützendes Schwarz fällt (selten auf das als Leere, Schmerz und Tod empfundene Weiß) – oder ob es die eigene Faszination ist, die von jedem Material, seinen Möglichkeiten, Kräften, Widerständen und Grenzen ausgeht, die innere Energie, die jede Farbe magisch ausstrahlt, und nicht zuletzt die lebendige Spannung in jeder Linie, die mild fließend oder wild springend die Fläche – etwa als feiner, funkelnder Faden – durchzieht, überquert, überwindet.

 

Gelegentlich sind es auch Texte wie die von Paul Celan, die sie zu künstlerischer Reaktion zwingen.

 

Ob daraus Tücher, Kleider und Pullover ohne Bindung an wechselnde Moden, großformatige Applikationen mit Hand- und Maschinenstickerei auf Leinen, Seide und ausdrucksvoll strukturiertem Pflanzenfaserpapier oder miniaturgleiche Karten entstehen – immer ist das Geschaffene eine individuelle Botschaft an einen imaginären Partner, die ein Käufer und Nutzer mit wachen Sinnen empfangen darf.

 

Das uralte, vermutlich der jüdischen Mystik der Kabbala entlehnte Tarotspiel, das die promovierte Kunstpädagogin und ausgebildete, staatlich anerkannte Kunsttherapeutin als Lebenshilfe für sich selbst und als Ausgangspunkt zur Lebensberatung für andere nutzt, inspiriert sie zu einer seit Jahren schrittweise wachsenden Bildfolge voll suggestiver Ausdruckskraft: von abstrakter Symbolik in Farbe, Form und Komposition beispielsweise bei der besänftigend ausgleichenden „Mäßigkeit“, der Wärme und Leben spendenden „Sonne“, dem unausweichlich rotierenden „Rad des Schicksals“ – von skurriler, an Chagallsche Bildsprache gemahnender Figürlichkeit bei „Teufel“, „Magier“ und „Wagen“. Lebensbäume, Märchenbäume, Zauberbäume knüpfen an diese noch längst nicht ausgeschöpfte Thematik an.

 

Transzendenz als die auch sinnlich erfahrbare Durchdringung von Jenseitigem und Diesseitigem, von Innerem und Äußerem, auch von materiellen und geistigen Kräften im Guten wie im Bösen widerspiegeln Hexenzauber und Schutzengelmystik, das Abrakadabra also ebenso wie das Halleluja als manchmal gegeneinander, aber manchmal durchaus auch nebeneinander wirkende Kräfte auf der Suche nach dem Königsweg zur Himmelspforte (die sich manchmal dann doch als ein rechter Höllenschlund erweisen kann …). Aber was ist der Himmel ohne die Hölle?

 

Einen zentralen Platz in Monika Bessers Schaffen nehmen seit einiger Zeit Mandalas ein – eine mythische Kreisform, die in ihrer vielen Völkern seit Jahrtausenden vertrauten magischen Wirkung von Ganzheitlichkeit und Geborgenheit, von Meditation und Konzentration, von einem heilenden Weg zur eigenen Mitte in Ruhe und Besinnung ihrem eigenen Schutzbedürfnis ebenso entspricht wie sie in der Seele des Betrachters unversehens geradezu therapeutische Kräfte entfalten kann.

 

Sie entdeckte – noch ohne von Mandalas je gehört zu haben – zuallererst den Kreis in der Form der Sonnen für sich selbst als einen geschützten Raum, die Arbeit daran und darin als eine Form der Meditation mit heilender Wirkung und spricht daher von einer „Rettung ins Bild“, aus dem sie jedoch immer wieder auch wie von Ariadnefäden geleitet – denen wir noch in den Arbeiten nachspüren können, und sie sind beileibe nicht immer rot – herauszufinden vermag. Und es ist zugleich der Weg einer Schatzsuche, denn sie entdeckt gemeinsam mit uns kleine Kostbarkeiten, Fundstücke aus Körben und Kisten, die wertvoll werden durch ihre Arbeit und unsere ihr folgende Beachtung.

 

Doch auf der Suche nach neuen Energie- und Kraftquellen ist auch die Philosophie des Mandala zu ihrer eigenen geworden – nicht zufällig in enger Verknüpfung zu den magisch-kultischen Traumfängern der Indianer.

 

Das Mandala (Sanskrit „Kreis“, „Ring“) ist in den Religionen des indischen Kulturkreises ein mystisches Diagramm, welches in konzentrierter Anordnung – meist aus einer Verbindung von Quadraten und Kreisen – den gesamten Kosmos, die Götterwelt oder auch psychische Aspekte versinnbildlicht und als Meditationsbild gilt. Mandalas stellen symbolhaft eine religiöse Erfahrung dar; sie sollen bestimmte geistige Zusammenhänge (die von einem Zentrum ausstrahlenden göttlichen Kräfte im Universum, die Einheit von Mikrokosmos und Makrokosmos) verdeutlichen und den Menschen in ihrer Visualisierung und Meditation zur Einheit mit dem Göttlichen führen. Besonders ausgeprägt ist der Kult des Mandala im Lamaismus (außer gemalten Mandalas auf Thangkas, auch aus Farbstaub kunstvoll hergestellte Mandalas), wo auch Klöster vielfach nach dem Grundriss eines Mandalas gebaut sind. Komposition, Gestaltung der Figuren und Farbgebung unterliegen einer religiös festgelegten Symbolik. Das Mandala entspricht dem hinduistischen Yantra.

In der Tiefenpsychologie C. G. Jungs werden dem Mandala ähnliche bildhafte Gestaltungen und Trauminhalte als Symbole der Selbstfindung (Individuation) interpretiert.“

 

Soweit die Brockhaus Enzyklopädie von 1991.

 

Mandalas symbolisieren in veränderlichen Gestalten den Kreislauf der Natur in der Verknüpfung von Raum und Zeit: Die Form wandelt sich vom plastischen Zeichen für Sonne über Himmel, Erde, Ei, Kosmos, Gegensätzlichkeit, Sanduhr, Rad bis hin zum Zeichen für Leere.

 

Kann also die formale Verwandtschaft der Mandalas zum aztekischen Kalender, einer im Tempelbezirk des alten Mexiko gefundenen, 3,50 m großen monolithischen Sonnenscheibe mit eingravierten Zeichen für Tage, Monate und Weltzeit, Zufall sein? Oder die zur Kreisform der Kultstätte Stonehenge und des nicht erhaltenen sagenhaften riesigen Holzgebäudes von Durington Wells mit einem Durchmesser von 40 Metern oder auch des bekannten Labyrinths der Trojaburg?

 

Der Kreis und seine körperhaft-räumliche Entsprechung, die Kugel – als Ei und Samen, Kokon und Kapsel, Blüte und Frucht, Planet und Umlaufbahn, Fingerring und Halsreif, Turm und Stadtmauer – ist eine dem Menschen in seinem Innersten und aus ältester Welterfahrung zutiefst vertraute Form.

 

In Kreis und Kugel fühlt man sich wie ein Embryo geborgen und bewahrt – doch auch gebunden und gefangen, sind ihre Grenzen zu dicht und eng gezogen, ihre Wände zu undurchdringlich.

 

Im Märchen gibt es die Dornenhecke, die durchbrochen werden muss, aber auch die goldene Kugel des Froschkönigs als magischen Ausgangspunkt für eine schicksalhafte Lebenswende.

 

Doch diese Form suggeriert auch die geistige und reale Bewegung von innen nach außen und von außen nach innen, und so gilt das Formen eines Mandalas von innen nach außen als Therapie der Ermutigung und Selbstbefreiung, das Gestalten von außen nach innen als Weg der Beruhigung und Selbstbesinnung.

 

Monika Besser bewegt sich allerdings frei durch ihre Mandalas und zunächst zur eigenen Lebensbewältigung, doch so ganz nebenbei hilft sie auch uns auf die Sprünge: Ihre kraftvoll aus der Materialsprache und einem psychologisch motivierten sensiblen Farbverständnis heraus entwickelten Arbeiten geleiten auf den Brücken von Liniennetzen aus Fäden und Fasern unsere Blicke und Gedanken rotierend um die Konturen der Form herum, aber ebenso in fließend und pulsierend hinein und hinaus.

 

Zarte Fäden setzen sich aber auch bewusst im taoistischen Sinne gegen die große geschlossene Gesamtform durch, lösen sie auf, stellen ihre Stärke in Frage, zeigen die Kraft des Schwachen, die Größe im Kleinen und die Möglichkeit und Notwendigkeit des produktiven Miteinanders von Großem und Kleinem. Überlagerungen durch transparente Gespinste brechen und hinterfragen das zuerst so Eindeutige, säen Zweifel, wecken Neugier und Entdeckerlust, Aufmerksamkeit für das zuerst Unauffällige, Bescheidene in seiner verhaltenen Kostbarkeit: das Universum unter dem Brennglas.

 

Wir wandern auf den Spuren eines Engels an unserer Tafel unter Sternensplittern, und das Walpurgisfeuer wärmt uns dabei lustvoll den Hintern auf dem Hexenbesen. Lao-Tse sagt:

 

…denn alles Schwere der Welt ward aus Leichtem und alles Große entsteht aus Geringem. Nie müht sich darum der Weise um Großes, und so vermag er Großes zu schaffen.

 

Mandalas sind auch in diesem Sinne pars pro toto: Von der Farbstimmung und charakteristischen Stofflichkeit des beweglichen textilen Materials in eine psychologische Grundsituation versetzt, widerspiegeln die reliefhaften Flächengebilde in sich geschlossene, aber trotzdem durchaus auch widersprüchliche und vor allem stark emotional geprägte Lebenskosmen – wie etwa im kleinen die Befangenheit und Bedrängnis des einzelnen in lilaschwarzgrauen nächtlichen Traumwelten einerseits oder dessen ausstrahlenden Lebenswillen voll überquellender goldroter Heiterkeit in der Tagwelt andererseits, im großen aber auch die dumpfe, aggressive Bedrohung des Lebens in seiner Gesamtheit oder einen grundlegenden unbezwingbaren Lebenswillen, eine unbeirrbare Sehnsucht nach Licht und Liebe gegen alle Widerstände und voll pantheistischer Hoffnung auf ein letztlich doch harmonisches Universum im großen wie im kleinen.

 

Diese ersehnte Harmonie entsteht dabei allerdings nicht durch Gleichförmigkeit und Gleichschaltung, sondern durch fortwährende Auseinandersetzung mit Widersprüchlichem, durch Streit und Versöhnung der Gegensätze zu Erkenntnisgewinn und Fortentwicklung.

 

Voll und leer gebären einander

Leicht und schwer vollbringen einander

Lang und kurz bedingen einander

Hoch und niedrig bezwingen einander

Klang und Ton stimmen einander

Vorher und nachher folgen einander …

So gedeihen die Dinge ohne Widerstand

So lässt der Weise sie wachsen und besitzt sie nicht …

Und da er nichts nimmt

Verliert er nichts.

 

Und:

 

Kenne das Männliche, aber bewahre das Weibliche.

Kenne das Licht, aber bewahre den Schatten.

Kenne das Hohe, aber bewahre das Niedrige….

So stellt der Weise sein Selbst zurück

Und ist den anderen voraus

Wahrt nicht sein Selbst

Und es bleibt ihm bewahrt

Denn ohne Eigensucht

Vollendet er das Eigene.

 

Das sagt Lao-Tse. Und das tut Monika Besser mit ihrer Kunst.

 

Denn sie ist ein wichtiger Weg, anderen Menschen voller Achtung auf Augenhöhe zu begegnen, ihnen nahezukommen durch Öffnung und zugleich Zurücknahme des eigenen Selbst und durch die Souveränität, die Dinge aus dem eigenen Inneren heraus ohne Eigennutz wachsen zu lassen.

 

Und das ist für Monika Besser auch das Wichtigste für ihr Leben und ihre Arbeit: die Nähe von Menschen zu finden, ihnen die Hand zu reichen, einander die Seelen zu öffnen auf der Suche nach gegenseitiger Wärme.

 

Die Brücken sind Bildzeichen, Farben und lebendige Werkstoffe ebenso wie Worte und Symbole aus fernen Zeiten, ergänzt, erweitert und vertieft durch die intensive Beschäftigung mit der Psychologie und den philosophischen Dimensionen etwa der Welt des Tarot und des Mandala, in das Lebenserfahrungen unterschiedlichster Generationen und Kulturen eingeflossen sind. So spürt man aus ihren Arbeiten eine rational nicht erklärbare Magie des nicht Gesagten zwischen den Spuren der Fäden, tief unter den Schichten der Gewebe. Figurationen sind dabei nur Anlass, die tiefere mythische Bedeutung der darin verborgenen nonfigurativen Bildzeichen zu entdecken – keltische Runen, ägyptische Hieroglyphen, mystische Sprache der Kabbala, mahnende Flammenschrift des apokryphen Menetekels Babylon – von allem etwas und nichts davon: Das individuelle künstlerische Zeichen nimmt alles auf und ist doch immer autark. Gedanken, Wünsche, Träume, Ängste all derer, die diese Zeichen erfinden und benutzen, wachsen spürbar durch den Bildgrund und alle Sinnschichten hindurch zu uns herauf und berühren unsere Gedanken, Wünsche, Träume, Ängste. Vielleicht finden wir darin auch die Erklärung für ein Phänomen: Denn im Gespräch mit Rat suchenden Menschen ebenso wie über ihre künstlerische Arbeit strahlt Monika Besser selbst auf behutsame, still suggestive Weise nicht nenn- und fassbare Kräfte aus, die sie auch selbst daraus als lebensnotwendig schöpft. Ihren Lebensauftrag und Kunstbeitrag versteht sie von daher eher als Ermutigung denn als Beunruhigung; ihr geht es um Zuversicht, die Zweifel aktiv überwindet, statt sie hilflos zu verdrängen.

 

Doch auch die Beratung durch Kunst bleibt letztlich ergebnisoffen, denn das Entscheidende für die neue eigene Erfahrung muss der Betrachter selbst leisten – im aktiven Dialog mit dem einzelnen Werk und seiner Schöpferin.

 

Monika Besser hat es sich nicht leicht gemacht, ihren Platz im Leben und in der Kunstlandschaft der Region zu finden und zu besetzen, aber seit einiger Zeit behauptet sie ihn mit wachsender Souveränität – auch auf der Basis täglich neuer Selbstbefragung und ständig auf dem Weg von außen nach innen und von innen nach außen.

 

Zuletzt – but not least – noch einmal Lao-Tse:

 

Und schaubar wird der Dinge Geheimnis – Immer begehrlich

Und schaubar wird der Dinge Umrandung

Beide gemeinsam entsprungen dem einen – Sind sie nur anders im Namen

Gemeinsam gehören sie dem Tiefen

Dort, wo am tiefsten das Tiefe – Liegt aller Geheimnisse Pforte.

 

Erfurt, November 2010  |  Dr. Jutta Lindemann